Popcorn & Rollenwechsel

Verloren in der „Uncanny Valley“

von
Neu bei Quotenmeter.de: Sidney Schering schreibt montags über die bunte Filmwelt.

Das gute und nervige im Kino, das auffällige und das, was im Verborgenen bleibt. Ob das Geschehen vor der Leinwand, auf der Leinwand oder hinter den Kulissen: Unser Filmkolumnist richtet sein waches Auge auf die Filmkultur und lässt uns wissen, was er von den Ereignissen rund ums Kino hält.


Halloween ist gerade vorbei, da steht bereits der nächste Horror vor der Tür. Und er kennt kein Erbarmen. Doch anders als die Geister und Dämonen an Halloween stammt dieser Schrecken nicht aus den Untiefen der Hölle (oder aus dem Kostümausverkauf des Supermarkts nebenan), sondern aus den Untiefen der „Uncanny Valley“.

Mit dem Begriff „Uncanny Valley“ bezeichnet man das Paradoxon, dass die Publikumsakzeptanz von Robotern oder Filmfiguren nicht etwa proportional zum Grad des Realismus steigt, sondern ab einem gewissen Punkt einbricht. Das Kinopublikum akzeptiert stilisierte menschliche Figuren sowie (in der Theorie) perfekten Fotorealismus, doch sobald nur kleinste Fehler bei einer ansonsten realistischen menschlichen Figur auftreten, wird sie rigoros abgelehnt. So mancher Künstler in Hollywood hat diese Lektion längst gelernt, und so karikieren etwa die begnadeten Pixar-Studios ihre menschlichen Charaktere. Ein Mann in Hollywood hingegen hat das seit Jahren kursierende Memo des Publikums erfolgreich ignoriert, und so liefert er kommenden Donnerstag einen mit seelenlosen, an den Feinheiten der menschlichen Mimik und Gestik kränkenden, Figuren ausgestatteten Film ab:

Robert Zemeckis präsentiert diese Woche «Eine Weihnachtsgeschichte» – und sofern die Trailer einen repräsentativen Ausblick auf den Film liefern, dann sind Ebenezer Scrooge und seine Mitmenschen schauriger als die drei Geister der Weihnacht. Ob Dickens das seinerzeit im Sinn hatte, darf bezweifelt werden.

Bereits 2004 versuchte Zemeckis mit dem Film «Der Polarexpress» die Motion-Capturing-Technik, die ein ideales Werkzeug für Spezialeffekte ist, als vollwertiges Animationsmedium zu etablieren. Doch während die Technik, bei der Computer jede Bewegung eines Schauspielers registrieren und berechnen, bei Fantasiewesen wie Gollum in der «Der Herr der Ringe»-Trilogie wahre Wunder vollbrachte, so mündete sie in «Der Polarexpress» in leblose, hölzerne Computerwesen. Zwar sahen diese aus der Ferne betrachtet wie Menschen aus, sobald sie sich der Kamera näherten, verkamen sie allerdings zu leblosen Hüllen. Weshalb der Film dennoch ein stolzer Erfolg wurde, das bleibt mir ein Rätsel.

Natürlich war es eine verführerische Idee, Tom Hanks mittels dieser Technik mehrere Rollen spielen zu lassen, weshalb ich Zemeckis dieses nicht vorwerfen mag. Als Zemeckis allerdings meinte, «Die Legende von Beowulf» ebenfalls über diesen Weg zu verwirklichen, riss mir bereits der Geduldsfaden: Als Realfilm-Fantasyspektakel mit Motion-Capturing-Monstern hätte der Film wesentlich mehr getaugt. Trotzdem nahm Zemeckis seine geliebte Technik und raubte den menschlichen Charakteren jegliche Ausdrucksstärke – und dieses Jahr setzt er zum Hattrick an.

Was Filmausschnitte und Trailer bislang von «Eine Weihnachtsgeschichte» zeigen, kann sich getrost neben «Der Polarexpress» und «Die Legende von Beowulf» einreihen. Als Videosequenzen in einem Playstation-3-Spiel wäre das alles ja noch ganz ordentlich, doch der Kinofan bekommt beim Anblick der seelenlosen Motion-Capturing-Augen und der unwirklichen Hautoberfläche dieser Wesen das kalte Grausen.

Motion-Capturing ist und bleibt ein Werkzeug für Spezialeffekte. Als Kunstform, wie der Zeichentrick oder die Computeranimation, fällt es dagegen flach. Es kann keinen ganzen Film tragen – insbesondere nicht, wenn es versucht, fotorealistische Menschen zu generieren.
Durch Motion-Capturing entstandene Fantasiewesen wie der vom Briten Bill Nighy gespielte Davy Jones in den Fortsetzungen von «Fluch der Karibik» sind beeindruckende Glanzleistungen der Computertechnik, bei ihnen werden Schauspielkunst und Spezialeffekt zu einem überzeugenden Ganzen verquickt.

Nur existiert ein Unterschied, wenn ein Team von Animatoren in feinster Kleinarbeit die durch Motion Capturing gesammelten Daten nutzt um einem einzelnen Tentakelmonster menschliche Züge zu verleihen, oder ob eine Gruppe von Animatoren die selbe Zeit damit verbringt, einem kompletten Film voller realistischer Abbildungen von Menschen jede noch so kleine Macke auszutreiben.
Ersteres ist ein schwieriges Unterfangen, letzteres eine Herausforderung, die man nicht überwältigen kann. Und sinnlos ist sie obendrein auch noch: Wieso macht man sich die Mühe, möglichst realistisch aussehenden Menschen aus dem Computer ein glaubwürdiges Leben einzuhauchen, wenn man Jim Carrey genauso gut eine falsche Nase ankleben und ihn dann vor die Kamera zerren könnte?

Das traurigste daran ist, dass Robert Zemeckis viel lieber weiter mit seiner neuen Lieblingstechnik spielen möchte, statt zum Realfilm zurückzukehren, wo er die Filmgeschichte mit solchen Klassikern wie «Forrest Gump» und «Zurück in die Zukunft I – III» beglückte. So kündigte er bereits Adaptionen der Romane «Airman» und «Stoneheart» an, die er gerne mit „Motion Capturing“ verwirklichen möchte, ebenso wie ein Remake des Beatles-Films «Yellow Submarine».

Vielleicht geschieht Donnerstag aber auch ein Weihnachtswunder und Robert Zemeckis befreit sich und seine „Kunst“ endlich aus der „Uncanny Valley“...

Bah, Humbug!

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