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«Die Schlafenden»

von

Ein Hörbuch über den langen Schatten der frühen AIDS-Jahre – persönlich, erschütternd und historisch präzise erzählt.

Das SWR-Hörbuch «Die Schlafenden» nach dem Roman von Anthony Passeron ist eine eindringliche, atmosphärisch dichte Reise in die frühen 1980er-Jahre, als ein neuartiges Virus die Welt veränderte und ganze Familien an den Rand der Belastbarkeit brachte. Der Autor erzählt nicht nur eine Krankheitsgeschichte, sondern zeichnet das Porträt einer Epoche, eines Milieus und einer Familie, die sich über Jahrzehnte hinweg in Schmerz, Schweigen und Scham verstrickt. Dass es sich um die Geschichte seiner eigenen Verwandtschaft handelt, macht das Hörbuch umso kraftvoller – und umso schwerer zu vergessen.

Im Mittelpunkt steht Désiré, Sohn eines Metzgers aus einem Dorf in der Nähe von Nizza. Er verlässt Anfang der Achtziger sein Provinzleben, flieht nach Amsterdam, sucht Freiheit, Abenteuer und Zugehörigkeit – und kehrt als Heroinabhängiger zurück. Was seine Familie und die Bewohner des kleinen südfranzösischen Dorfes zunächst nicht wissen: Zur gleichen Zeit breitet sich in den USA und Frankreich eine mysteriöse Immunschwäche aus, die vor allem homosexuelle Männer betrifft, später jedoch auch intravenös Drogenabhängige trifft. Diese neue Krankheit, die bald den Namen AIDS tragen wird, ist zunächst ein Gerücht, dann ein medizinisches Rätsel, schließlich ein gesellschaftlicher Schock.

Passeron verwebt die intime Familienbiografie mit der wissenschaftlichen und politischen Geschichte der frühen AIDS-Epidemie. Während Désirés Leben zu einer Abfolge von Entziehungskuren, Rückfällen, Hoffnungsschimmern und familiären Krisen wird, kämpfen Ärztinnen und Forscher weltweit gegen ein Virus, dessen Natur sie noch kaum verstehen. Diese Parallelführung macht die Erzählung besonders fesselnd: Das Private und das Weltgeschehen spiegeln sich gegenseitig und verstärken die Tragik der Ereignisse.

Die Familie schweigt über Désirés Abhängigkeit. Im Dorf herrscht ein konservativer Ehrenkodex, der wenig Platz für Schwäche, Sucht oder Tabuthemen lässt. Diese Sprachlosigkeit wird zum zentralen Thema des Hörbuchs. Die Eltern verbergen die Wahrheit, um die Familienehre zu schützen; Freunde schauen weg; und die Dorfgemeinschaft versucht, den aufziehenden Sturm auszublenden. Doch je weiter die Erkrankungswelle voranschreitet, desto drängender wird die Realität.

Besonders erschütternd ist die Geschichte von Brigitte, Désirés Freundin und späterer Ehefrau, die ebenfalls drogenabhängig wird und sich infiziert. Gemeinsam bekommen sie eine Tochter: Émilie. Was ein Neuanfang hätte sein können, wird zur tragischen Zuspitzung. Das Kind ist HIV-positiv, und die Großmütter – die bereits den Niedergang ihrer eigenen Kinder erlebt haben – kämpfen verzweifelt um das Leben ihres geliebten Enkelkindes. Passeron beschreibt diese Frauen mit großer Empathie: stark, erschöpft, liebevoll, gefangen in der Unausweichlichkeit eines medizinischen und gesellschaftlichen Albtraums.

Das Hörbuch pendelt kunstvoll zwischen nahen, fast zärtlichen Momenten im Familienkreis und den nüchternen, manchmal erschütternden Fakten über die frühen Jahre der Pandemie. Besonders die wissenschaftlichen Passagen zeigen die Hilflosigkeit der damaligen Medizin, aber auch den enormen Einsatz vieler Forscher. Mit jeder neuen Episode wächst das Verständnis dafür, wie wenig die Gesellschaft vorbereitet war – und wie schnell Vorurteile, Stigmatisierung und moralische Urteile das soziale Gefüge vergiften konnten.

Gelesen wird «Die Schlafenden» von Valentin Richter, dessen ruhige, zugleich verletzliche Stimme den Text trägt, ohne sich in Sentimentalität zu verlieren. Er lässt die Figuren lebendig werden, gibt dem gesellschaftlichen Hintergrund Dichte und dem Schmerz der Familie Schwere, ohne den Hörer zu erdrücken. Regisseur Ulrich Lampen setzt auf klare, atmosphärische Akzente, die den inneren Rhythmus des Textes unterstützen.

«Die Schlafenden» ist kein klassisches True-Crime- oder Schicksals-Hörbuch, sondern ein historisch fundiertes Familiendrama, das zugleich ein gesellschaftliches Dokument der AIDS-Ära darstellt. Es zeigt die Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen Schweigen und Aufklärung, zwischen individueller Schuld und strukturellem Versagen. Vor allem aber ist es eine Geschichte über Erinnerung – darüber, wie Familien mit Verlust umgehen, wie sie verdrängen, und wie eines Tages jemand beginnt, Fragen zu stellen, weil das Schweigen die größte Last von allen ist. Ein bewegendes Werk, das berührt, aufklärt und lange nachhallt.

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