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‚Die Deutschen in der Welt – Siedler, Händler, Philosophen‘

von

Eine globale Geschichte, die unser Selbstverständnis als Nation neu denkt. David Blackbourn hat ein Werk über 1.000 Seiten verfasst.

Mit seinem monumentalen Werk „Die Deutschen in der Welt – Siedler, Händler, Philosophen“ legt der renommierte Historiker David Blackbourn ein Geschichtsbuch vor, das die Perspektive auf Deutschland radikal erweitert. Statt die Geschichte der Deutschen auf die politischen Grenzen des Nationalstaats oder die dunklen Kapitel des 20. Jahrhunderts zu beschränken, erzählt Blackbourn eine globale Geschichte – eine Geschichte von Bewegung, Migration, Austausch und Einfluss. Das Ergebnis ist eine über 1.000 Seiten umfassende, packend erzählte Chronik, die zeigt: Deutsche Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines Landes, sondern auch die einer Weltvernetzung, die seit Jahrhunderten besteht.

David Blackbourn, Professor für deutsche Geschichte an der Vanderbilt University (USA) und international bekannt durch Werke wie „Die Eroberung der Natur“ und „Marpingen“, gehört zu den Historikern, die deutsche Geschichte nicht national, sondern transnational denken. In diesem neuen Buch, das von Klaus-Dieter Schmidt hervorragend ins Deutsche übertragen wurde, zeigt er, dass „die Deutschen“ – als Auswanderer, Händler, Missionare, Forscher, Künstler oder Philosophen – seit dem Mittelalter untrennbar mit der Welt verflochten waren. Während viele Geschichtsdarstellungen Deutschland als isolierten Nationalraum begreifen, öffnet Blackbourn die Perspektive: Er folgt den Spuren deutscher Präsenz in Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien, beschreibt, wie sie Kolonien beeinflussten, Industrien prägten, Ideen verbreiteten – und zugleich, wie sie selbst durch diese Begegnungen verändert wurden.

Blackbourn beginnt im Spätmittelalter, als Kaufleute der Hanse ihre Handelsnetze bis nach Nowgorod und Bergen spannten, und führt den Leser bis in die Gegenwart. Auf dieser Reise begegnen wir Auswanderern in Minnesota, die deutsche Gemeinden im Mittleren Westen der USA gründeten; Missionsschwestern in Togo, die das Christentum verbreiteten und zugleich koloniale Strukturen stützten; Händlern in China, Philosophen in Paris oder Winzern in Südaustralien, die deutsche Kultur mit lokaler Tradition verbanden. Jedes Kapitel öffnet ein neues Fenster in die Welt. Es geht um deutsche Kolonialgeschichte, aber auch um Migration und Austausch, um Wissenschaft, Religion, Kunst und Technik. Besonders spannend ist, wie Blackbourn den Begriff „deutsch“ selbst befragt: Er zeigt, dass nationale Identität über Jahrhunderte fließend war – lange bevor es einen einheitlichen deutschen Staat gab.

Blackbourns Blick ist analytisch, aber nie anklagend. Er verschweigt die Schattenseiten der deutschen Präsenz in der Welt nicht – Kolonialismus, Ausbeutung, Rassismus –, doch er reduziert sie nicht auf Schuld. Vielmehr zeichnet er ein komplexes Bild, in dem Leistung und Gewalt, Neugier und Arroganz, Fortschritt und Zerstörung nebeneinanderstehen. Er zeigt, dass die „deutsche Spur“ in der Welt voller Widersprüche ist: Während Ingenieure, Wissenschaftler und Musiker weltweit bewundert wurden, hinterließen Kolonialbeamte und Siedler bis heute schmerzliche Narben. Und während Philosophen wie Kant oder Hegel globales Denken prägten, fanden deutsche Ideen von Nationalismus und Rassenlehre ebenfalls internationale Resonanz – mit verheerenden Folgen. Gerade diese Ambivalenz macht das Buch so wertvoll: Es zeigt die Deutschen weder als Helden noch als Täter allein, sondern als Akteure einer verflochtenen Weltgeschichte, die von ständiger Bewegung geprägt ist.

Trotz seines akademischen Anspruchs liest sich „Die Deutschen in der Welt“ überraschend frisch. Blackbourn verbindet fundierte Forschung mit erzählerischer Leichtigkeit. Er erzählt von Abenteurern und Denkern, von Frauen und Männern, die über Grenzen hinausgingen, von persönlichen Schicksalen, die in den großen historischen Strom eingebettet sind. So lernt man etwa den Hamburger Kaufmann kennen, der im 18. Jahrhundert mit Lateinamerika handelte, oder die deutschen Migranten in Brasilien, die eine neue Heimat gründeten – aber ihre alte nie ganz vergaßen. Diese Geschichten machen Geschichte spürbar. Zahlreiche Abbildungen, Karten und Dokumente ergänzen den Text und lassen den Leser visuell an der Reise teilhaben. Sie machen deutlich, dass es sich hier nicht nur um ein Buch über Geschichte handelt, sondern um eine Weltreise durch Jahrhunderte deutscher Erfahrung.

In Zeiten, in denen Debatten über Migration, Identität und kulturelle Zugehörigkeit das politische Klima prägen, ist Blackbourns Buch hochaktuell. Es zeigt, dass Mobilität, Vermischung und Austausch keine Erfindungen der Moderne sind, sondern schon immer Teil der deutschen Geschichte waren. So bietet das Werk nicht nur einen historischen Überblick, sondern auch eine Reflexion über das heutige Selbstverständnis Deutschlands in einer globalisierten Welt. Was bedeutet es, deutsch zu sein, wenn die Geschichte selbst immer schon global war? Wie prägt das Erbe von Migration und Kolonialismus unser Denken bis heute? Blackbourn liefert keine einfachen Antworten, aber er öffnet den Raum für neue Perspektiven.

„Die Deutschen in der Welt“ ist ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, das die Grenzen des Nationalen sprengt. David Blackbourn zeigt, dass die deutsche Geschichte viel größer ist, als es Schulbücher oder nationale Erzählungen vermuten lassen. Sein Ansatz ist empirisch präzise, erzählerisch packend und moralisch ausgewogen – eine seltene Kombination in der Geschichtsliteratur. Dieses Buch ist ein Geschenk für alle, die Geschichte lieben, aber auch für jene, die verstehen wollen, wie eng unsere heutige Welt mit den Bewegungen der Vergangenheit verflochten ist. Ein ideales Werk für lange Winterabende, für Historikerinnen, Weltbürger und alle, die glauben, dass die deutsche Geschichte noch viele unentdeckte Horizonte hat.

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