First Look

«Marvel's Luke Cage»: Netflix' Harlem Renaissance

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Mit «Luke Cage» setzt Netflix sein Superhelden-Serien-Genre fort - und landet einen weiteren inhaltlichen Coup.

Seit sich Luke Cage (Mike Colter) bei der Verbüßung seiner Haftstrafe einem medizinischen Experiment unterziehen musste, das ihm die Superkräfte Unverwundbarkeit und immense körperliche Stärke verliehen hat, wohnt er in Harlem, wo er darauf Wert legt, ein unauffälliges Leben zu führt: Nachts macht er in einem Nachtclub die Drecksarbeit, tagsüber wischt er für den Friseur Pop (Frankie Faison) den Fußboden.

Pop ist die graue Eminenz des Viertels – und sein Friseursalon die Schweiz von Harlem: Er tut sein Bestes, junge Männer weg von der Straße zu bekommen, und in seinem Laden können Gangs auf neutralem Boden friedlich ihre Streitereien schlichten.

Einer von Pops Protégés ist nun mit Cottonmouth (Mahershala Ali) in Konflikt geraten, dem derzeit gefährlichsten und erfolgreichsten Gangster-Boss von Harlem, dem auch der Nachtclub gehört, in dem sich Luke verdingt, und der als Cousin der Stadträtin Mariah Dillard (Alfre Woodard) gute Kontakte in die Politik hat.

Ähnlich wie seine Vorgängerin «Jessica Jones» ist «Luke Cage» keine „Superheldenserie“ im klassischen Sinne, die lediglich einen Procedural-Plot auf eine horizontale Staffel streckt und in der der Held vielleicht variationsreich, aber repetitiv einen Gegner nach dem nächsten ausschaltet. Netflix‘ Marvel-Serien sind psychologischer, ihre Helden ackern sich nicht an generischen Orten für die Gerechtigkeit ab, sondern sind tief in den sozialen wie politischen Gegebenheiten ihres Umfelds verwurzelt. Während sich «Jessica Jones» als eine feministische Allegorie auf weibliche Selbst- und Fremdbestimmung lesen ließ, sieht sich «Luke Cage» in der kulturellen Tradition der Harlem Renaissance.

Die Anspielungen sind allgegenwärtig: Luke Cage vertieft sich in die Lektüre von Ralph Ellisons grandiosem Roman „Invisible Man“, Langston Hughes‘ geflügelte Worte vom dream deferred und der raisin in the sun sind so allgegenwärtig, dass sie gar nicht Einzug in die Dialoge halten müssen, die Ästhetik in Cottonmouths Nachtclub erinnert an den Cotton Club zu seinen besten Duke-Ellington-Zeiten, und der Name Crispus Attucks, das erste Opfer des berühmt niederträchtigen Boston Massacres, schallt durch manche Szenen wie eine Anklage an das Fehlen amerikanischer Einheit in den Zeiten von Black Lives Matter. Dass Attucks‘ Name das Gebäude ziert, in dem Cottonmouth sein Geld- und Waffendepot betreibt, bevor Luke Cage es zerlegt, um dem Harlemer Morden ein Ende zu setzen, spricht Bände.

Die besondere Leistung der Serie: Es gelingt ihr, sich nicht daran zu verheben, wenn sie an sich selbst den Anspruch stellen will, in dieser reichen kulturellen afroamerikanischen Tradition zu stehen. Stattdessen setzt sie sie mit modernen erzählerischen Mitteln und einem beeindruckenden Cast würdig fort, zeigt keine Angst vor schwierigen Themen, und dafür umso mehr Haltung.

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