Die Kino-Kritiker

«1917»: Ein Muss für alle, die Kino lieben

von

«Skyfall»-Regisseur Sam Mendes kreiert einen atemberaubenden, immens beeindruckenden Film über eine nahezu aussichtslose Mission.

Filmfacts «1917»

  • Regie: Sam Mendes
  • Produktion: Sam Mendes, Pippa Harris, Jayne-Ann Tenggren, Callum McDougall, Brian Oliver
  • Drehbuch: Sam Mendes, Krysty Wilson-Cairns
  • Cast: George MacKay, Dean-Charles Chapman, Mark Strong, Andrew Scott, Richard Madden, Claire Duburcq, Colin Firth, Benedict Cumberbatch
  • Musik: Thomas Newman
  • Kamera: Roger Deakins
  • Schnitt: Lee Smith
  • Laufzeit: 110 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
2002 inszenierte Alexander Sokurow mit «Russian Ark» einen etwa 95 Minuten langen Film, der in einer einzigen Einstellung geradezu geisterhaft durch dreihundert Jahre russischer Geschichte und russischer Geschichten gleitet. 2015 veröffentlichte Sebastian Schipper mit «Victoria» einen sogar 140 Minuten langen Thriller, der in einer einzelnen Einstellung von einer Berliner Nacht erzählt, die für eine Gruppe Chaoten und ihren titelgebenden, spanischen Flirt dramatisch aus den Fugen gerät. Während Sokurow diesen ungewöhnlichen und immens aufwändigen inszenatorischen Kunstgriff nutzte, um sich über filmische Normen hinwegzusetzen und in eine traumartige Logik zu steigern, ging Schipper den umgekehrten Weg: Dadurch, dass das so wichtige Filmwerkzeug namens Schnitt fehlt, versetzt Schipper das Publikum vollkommen unmittelbar in die unvorhersehbare Situation seiner Hauptfiguren. Dadurch erdet er die extreme Eskalation der Handlung, untermauert also den Realismus des Gezeigten.

So weit die beiden Extreme: Der One-Take-Stil eignet sich sowohl für absolute Unmittelbarkeit und das Erzeugen eines betonten Realismus, als auch für extreme Stilisierung und für vollkommene Traumlogik. Aber dieses filmische Handwerkzeug lässt sich auch für die Grauzonen dazwischen verwenden: Alejandro González Iñárritus «Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)» ist zwar kein echter One-Take-Film, sondern eine Aneinanderreihung imposanter Plansequenzen (mit einer expliziten Zäsur, nach der der Film neu ansetzt), doch diese Illusion nutzt Iñárritu, um uns in den fahrigen, mit sich hadernden Verstand eines Schauspielers zu versetzen, der an einem Karriere- und Lebensscheideweg steht.

Bei Iñárritu nähern wir uns also der Traumlogik von «Russian Ark», wir gleiten durch eine überhöhte Darstellung des kreativen Prozesses und der vielen Ego-Zankereien hinter den Kulissen eines Theaterstückes. Doch «Birdman» wohnt auch eine Prise der anderen potentiellen Wirkung solcher Plansequenzen inne: Iñárritu versteht es zudem, die ununterbrochene Kamerafahrt zu nutzen, um uns szenenweise semi-dokumentarisch mitten rein in die Abläufe zu versetzen, die die Bretter ausmachen, die die Welt bedeuten.

Sam Mendes' «1917» ist gewissermaßen der Komplementärfilm zu «Birdman»: In einer Reihe logistisch immens komplizierter Plansequenzen, die Lee Smith mittels meisterlich-subtiler Schnitte fast nahtlos vereint, lässt uns der Regisseur hautnah an einer lebensgefährlichen Mission teilhaben. Die britischen Jungsoldaten Schofield und Blake (George MacKay und Dean-Charles Chapman) werden aus einem Erholungsnickerchen gescheucht und bekommen den Auftrag, eine dringliche Nachricht an ein anderes Bataillon zu überreichen. Dieses plant nämlich, am nächsten Tag deutsche Streitkräfte anzugreifen – doch neuste Erkenntnisse suggerieren, dass die vermeintliche Schwäche der Deutschen vorgetäuscht ist und das Bataillon davorsteht, in eine Falle zu tappen. Also müssen die befreundeten Soldaten die Reise von ihrem Graben durchs sogenannte Niemandsland antreten, um sich letztlich durch kürzlich noch von Deutschen besetzte Landstriche zu kämpfen …

Mendes versteht es, früh in «1917» ein Gefühl der völligen Unmittelbarkeit zu erzeugen und dieses nicht nur unentwegt aufrecht zu halten, sondern sogar zu verstärken: Schofield und Blake marschieren zunächst redselig von einem idyllisch scheinenden Feld durch den Truppenplatz, bevor sie in den erdrückenden, matschigen Graben ihres Bataillon absteigen, in dem ihnen ständig andere Soldaten begegnen und sie völlig selbstverständlich an abgemagerten und/oder verletzten Kameraden vorbeigehen. Dadurch, wie nach und nach der Himmel aus dem Bild entschwindet und aus einem simplen Graben eine improvisierte, beengende Schlucht aus Gängen und Tunneln wird, zieht uns Mendes immer tiefer in den Alltag des Ersten Weltkrieges. Und diese Immersion wird dadurch, dass es keine offensichtlichen Schnitte gibt und Perspektivwechsel nur dann erfolgen, wenn sich die Protagonisten weit genug bewegt haben, damit sich ein neuer Anblick auftut, massiv verstärkt.

Ausgehend von diesem Auftakt, den Mendes und Krysty Wilson-Cairns («Penny Dreadful») in ihrem Drehbuch raffiniert gewählt haben, konzentriert «1917» diverse Erfahrungen des Ersten Weltkrieges auf eine außergewöhnliche, aber realitätsnahe Mission. Schofields und Blakes Einsatz dient sozusagen als ultimatives Exempel, mit dem Mendes die Sinnlosigkeit von Kriegen allgemein, insbesondere aber diesem Krieg vorführt. Ihr Weg führt vorbei an den zurückgelassenen Überresten längst gefallener Kameraden und Feinde und durch staubige, verwinkelte Tunnel sowie durch verlassene, verrottende Bauernhäuser. Tiefster Matsch muss durchkreuzt werden und es gilt genauso, Fliegerattacken auszuweichen – und diese Tortur, während der es ihnen mehr und mehr die Sprache verschlägt, zieht sich und zieht sich und zieht, sie scheint einfach kein Ende zu nehmen.

Obwohl «1917» ein Film der Handlungen und Abläufe ist, statt ein dialogschweres Drama darzustellen, verzichtet Mendes jedoch wohlweislich darauf, eine fulminante Actiondichte zu kreieren. Denn nicht nur, dass «1917» seinen exemplarischen Status verlieren würde, skizzierte er den Ersten Weltkrieg als einen Tummelplatz der Kämpfe ohne Unterlass – Mendes würde zudem auf eine Art setzen, Aufregung zu erzeugen, die der Essenz dieses Films widerspricht. In «1917» geht es nicht um mitreißende Spannung in Form von erregendem Schlachtengetümmel, das durch eine dynamische Inszenierung unterstrichen wird. Dieser Film strebt nach nervenzerfetzender Anspannung, nach etwas, das einem unsicher die Fingernägel in die Sessellehne graben lässt, da wir uns danach sehnen, dass die Hauptfiguren ihre leidliche Lage durchstehen. Und um das zu erzeugen, braucht es nur ein paar kurze, dreckige, schmerzvolle Kämpfe, wohl aber lange Phasen des Schüsseausweichens und Versteckens – sowie das minutiöse Durchexerzieren dessen, dass Fallen und Tücken der Natur genauso gefährlich sind wie der direkte Feindkontakt.



Dessen ungeachtet verzichten Mendes und Wilson-Cairns auf eine verklärende Heroisierung der Protagonisten, die so viel erdulden müssen: Schofield und Blake werden nicht als aufopferungsvolle Kämpfer für's Vaterland skizziert, nicht einmal als widerwillige Kämpfer für das Gute. Sondern als orientierungslose Jedermann-Jungs, die sich uneinig über den Wert von Auszeichnungen und die Bedeutung ihrer Mission sind, aber trotzdem mit betrübtem Gesicht weitermachen, weil sie keine andere Option haben. George MacKay legt Schofield als unermüdlich und desillusioniert an, als jemand, der fast schon automatisiert agiert. Doch in MacKays Augen und Mundwinkeln zeichnen sich noch immer Menschlichkeit und Schmerz ab, was «1917» eine unterschwellige, zugleich sehr intensive Emotionalität verleiht. Dean-Charles Chapman derweil spielt Blake auf sympathische, zurückhaltende Weise wie Schofields eigenen Samweis Gamdschie – nur weniger fröhlich-schillernd.

Dank all dem ist «1917» womöglich unter allen direkt an der Front spielenden Kriegsfilmen der, der mit der deutlichsten Dringlichkeit seine Anti-Kriegs-Botschaft vermittelt, da es nahezu unmöglich ist, nach diesem Film euphorisch aufzuspringen und zu sagen: "Zur Hölle, ja, das will ich auch!" Zu tief versinkt man mit jeder einzelnen Filmminute im auf der Leinwand ausgebreiteten Matsch und der erlebten Furcht. Mit jeder weiteren Sekunde, in der Mendes uns den erlösenden Schnitt zu einem anderen Schauplatz oder wenigstens zu einem anderen Blickwinkel versagt, intensiviert sich dieser reale Horror.

Und trotzdem ist «1917» keiner dieser Filme, die zwar beeindruckend sind, sich aber schwer lieben lassen, da sie zu sperrig zu gucken sind: So erbarmungslos dieses Leinwanderlebnis sein mag, ist es auch ein vollauf fesselndes cineastisches Wunder. Kameralegende Roger Deakins («Sicario») lässt die Kamera scheinbar völlig mühelos durch unwegsames Gelände schweben und kreiert aus kräftigen Erdfarben, erblassenden Gesichtern und alles verschlingenden Schatten ein atemberaubendes, bewegendes Bild nach dem nächsten. Mit dieser überwältigenden Meisterleistung in einer ganzen Filmografie voller meisterlicher Leistungen verleiht Deakins «1917» eine extreme Sogkraft, die Komponist Thomas Newman durch seine Filmmusik brillant verstärkt:

Als wäre es Newmans Antwort auf Hans Zimmers «Dunkirk»-Score, erschafft der Komponist eine langsam, nahezu kontinuierlich anschwellende Klangatmosphäre, erzeugt durch eine minimal beginnende Instrumentierung, die sukzessive komplexer wird, um sich schleichend wieder ab- und dann wieder aufzubauen. Diese Wellen aus zersprengten Streicher-Symphonien, sporadisch aufploppenden, markanten Percussionelementen und einer klirrenden Ebene an elektronischer Musik drängen sich nie in den Vordergrund von «1917», aber sie beeinflussen mit subtiler, steter Kraft die Wirkung des Films. Die stilistisch überhöhte, anachronistische Musikuntermalung signalisiert gewissermaßen schon früh in «1917» den Hauch an Traumlogik dieses Films, der analog zum Hauch des Realismus in «Birdman» steht:

Dadurch, dass Mendes und Deakins so unerschütterlich durch die Tücken, Gräuel, Horror des Ersten Weltkrieges gleiten, können sie sich (einem traumatischen Delirium gleich) unbemerkt über die Grenzen von Zeit und Raum hinwegsetzen. In weniger als zwei Stunden raffen sie einen Fußmarsch zusammen, der in dieser Zeit kaum zu bewältigen ist, und der sowieso bei aller Plausibilität nur einen poetisch verdichteten Stellvertreter für einen ganzen Krieg darstellt.

Diese unterschwellige Realitätsverzerrung legt kurz und einprägsam zu, wenn in einer musikalisch besonders wuchtigen Passage Schofield in einen Rausch der Panik, Desorientierung und Eile durch Ruinen rennt, die nur von gleißendem Geschützfeuer erhellt werden. Deakins und Mendes lassen in diesem Gänsehaut-Moment die Kamera weiter weg von ihren Figuren davongleiten als sonst im Film, als würde der Geist aus dem stillen Beobachter fahren, den sie sonst darstellt, und erschüttert den eskalierenden Verlauf der Dinge verfolgen. Diese Sequenz bricht keineswegs mit der inszenatorischen Logik von «1917», sondern lotet ihre Grenzen aus, rüttelt das Filmerlebnis somit durch und sie sät dieses eine Saatkorn des Angstrausches, der Traumatisierung und des "Es fühlte sich nicht wirklich an", der zur Schilderung des Ersten Weltkrieges gehört.

«1917» ist daher schlussendlich nicht bloß ein handwerkliches Wunderwerk und eine unvergessliche Kinoerfahrung, sondern vor allem ein künstlerisch faszinierendes, spektakulär konstruiertes Oxymoron: Der Film ist kontinuierlich in Bewegung, um die lange, statische Qual des Ersten Weltkrieges zu verdeutlichen. Mit traumhaften Mitteln macht er reales Leid spürbar. Ein absolutes Muss für alle, die Kino lieben!

«1917» ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.

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