Die glorreichen 6

Die glorreichen 6 – Filme zur Lage der Nation (Teil I)

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Denken wir an Deutschland in der Nacht, sind wir um den Schlaf gebracht: Unsere Filmredaktion hat sechs Produktionen ausgesucht, die Bände über den Geisteszustand der Bundesrepublik sprechen. Zum Auftakt blicken wir auf «Finsterworld».

Die Handlung


Filmfacts: «Finsterworld»

  • Regie: Frauke Finsterwalder
  • Drehbuch: Christian Kracht, Frauke Finsterwalder
  • Darsteller: Margit Carstensen, Sandra Hüller, Corinna Harfouch, Christoph Bach, Carla Juri, Jakub Gierszał
  • Produktion: Walker + Worm Film
  • Musik: Michaela Melián
  • Kamera: Markus Förderer
  • Schnitt: Andreas Menn
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
  • Laufzeit: 95 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Es ist ein beklemmend leeres Deutschland in Märchenfarben, in dem sich verschiedene Einzelschicksale überkreuzen. Es ist «Finsterworld». Die Heimat eines Einsiedlers, der in einem Wald einen verletzten Raben aufpäppelt. Aber auch die Heimat von Fußpfleger Claude Petersdorf, der sich in seine Stammkundin im Seniorenalter verliebt hat – und der wegen des Telefonierens am Steuer von dem Polizisten Tom angehalten wird. Tom fühlt sich in seiner Beziehung zur Fernseh-Dokumentarfilmerin Franziska isoliert, da sie weder ein Ohr für seine Ratschläge hat, wie sie in ihrem Beruf glücklicher werden kann, noch für seine eigenen Sorgen.

Denn Tom trägt liebend gern Ganzkörpertierkostüme, was er sich aber nicht zuzugeben traut. Franziska wiederum schleppt sich durch ihr aktuelles Projekt: Sie filmt einen Hartz-IV-Empfänger bei seiner Tagesroutine – da soll eine ganz authentische, berührende Fernsehsendung bei herausspringen. Das wird schon!

In einer anderen Ecke Finsterworlds macht eine Klasse einen Ausflug zu einer KZ-Gedenkstätte – ein Thema, das die Schüler nicht weniger interessieren könnte. Vor allem der eitle Maximilian und Mitläufer Jonas haben nur Schabernack im Sinn – sowie die hübsche, alternativ eingestellte Mitschülerin Natalie. Die versteht sich aber gut mit dem schüchternen Dominik, was ihn zusätzlich zu seinen Eigenheiten zur Zielscheibe von Maximilians und Jonas' Anfeindungen macht. Parallel dazu befindet sich das Ehepaar Georg und Inga auf Reise in einem gemieteten SUV. Das Schicksal wird Dominik schon bald zu einem unerwarteten dritten Passagier in diesem Straßenkreuzer machen …



Die 6 Aspekte, die den Film so beachtenswert machen


Sich «Finsterworld» im Jahre 2018 erneut anzugucken, ist eine Gänsehauterfahrung: Der Ensemblefilm war schon in seinem Erscheinungsjahr 2013 eine intensive Erfahrung, wie die damaligen, in ihrer Stimmung breit gestreuten Kritiken belegen. Doch retrospektiv wird erst so richtig deutlich, was die in Hamburg aufgewachsene Autorenfilmerin Frauke Finsterwalder und ihr Ehemann/Schreibartner, der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht, als im Ausland lebendes Paar bereits Anfang des Jahrzehnts alles erkannt haben, das heute aktueller denn je erscheint.

In «Finsterworld» zieht Finsterwalder beispielsweise wichtigtuerische Fernsehschaffende durch den Kakao, die eine klassische Ausbildung durchlaufen haben und vom großen, die Gesellschaft aufrüttelnden Wurf träumen, während sie Hartz-IV-Empfänger beim Essen von Dosenspaghetti filmen und das für profundes, die Gesellschaft aufrüttelndes Fernsehen halten. Schon damals gab es Sozialdokus, die gelangweilten Arbeitslosen auf die Pelle gerückt sind, und das als authentisch und somit automatisch aussagekräftig erachtet haben – doch mittlerweile sind Brennpunktdokus in ihrer ungeschönten (aber überbetont tragischen) Trivialität zu riesigen Quotenhits und sogar zu Kritikerlieblingen herangewachsen. Größere Zusammenhänge aufzeigen oder tiefer bohren? Nein, warum denn?

Finsterwalder urteilt dabei aber nicht von oben herab, gibt der von Sandra Hüller mit einer ulkigen, trockenen Begriffsstutzigkeit verkörperten Redakteurin sogar ganz uneitel und selbstironisch den ihr ähnlich klingenden Namen Franziska Feldenhoven. Und eben dieser "Die Lage ist zu verfahren, um einem Menschenschlag allein die Schuld zu geben, doch das bedeutet nicht, dass es daher verziehen werden sollte"-Duktus zieht sich durch den gesamten Film. Was auch die Bildästhetik unterstreicht. Denn dieser von mehreren tragisch endenden Plots durchzogene, kühl klingende Film wird trotzdem in weich gezeichneten, farbintensiven Bilderbucheinstellungen erzählt. Es gibt eben auch in «Finsterworld», der von einer im Ausland lebenden Deutschen erschaffenen Vision der Bundesrepublik, allen Brandherden zum Trotz schöne Aspekte – und umso schwerer wiegen die Gegebenheiten, die das mögliche Paradies zur Vorhölle machen.

So muss ein Polizist sich als Eisbär verkleiden, um körperliche Nähe zu spüren – womit Finsterwalder symbolisieren will, wie auffallend berührungsscheu wir Deutschen sind. Und das ist noch eine der harmloseren Beobachtungen in «Finsterworld». Beißender ist da die Episode um das Ehepaar Georg und Inga, das die politische Verlorenheit der (aussterbenden) gut betuchten Mitte auf sie Spitze treibt: Putzt wirtschaftsliberal Servicepersonal nieder, das nicht spurtet, übt sich links-verkappt in kontinuierlicher Assoziationspanik, man könnte nach außen hin wie Nazis wirken (und weigert sich daher zum Beispiel, einen Volkswagen zu mieten) und rümpft erzkonservativ über die Jugend die Nase. Politisch überall und nirgendwo – nicht auf eine nuancierte, dem komplexen Politdiskurs zugeneigte Weise, sondern so, dass sich alles gegenseitig aufhebt.

Doch die Filmpassage, bei der es einem den Hals so richtig zuschnüren darf, ist die über den Klassenausflug ins KZ: Wirkte es 2013 vielleicht noch wie ein altgedientes Klischee, dass deutsche Schüler keinen Bock auf die Konfrontation mit der Vergangenheit haben, wird rückblickend deutlich, welches Warnsignal der Bundesrepublik jahrelang entgegen geblinkt hat: Ermüdung durch übermäßige Ermahnung, die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen, ist keine Ausrede, wenn Geschichtslektionen mit den Füßen getreten werden. Im Mahnmärchen «Finsterworld» sind es keine rechten Ausländerfeinde, die sich durchsetzen, wohl aber empathielose, selbstgefällige Mistkerle, für die die Gefühle Anderer bestenfalls lästige Kleinigkeiten sind, obwohl sie sich selber in die Narrative flüchten, sie wären nie ausreichend geliebt worden. Und um dem Ganzen noch die Krone der Dreistigkeit aufzusetzen, lassen sie dann noch dezent linksgerichtete, sensible Mitmenschen das ausbaden, was sie verbrochen haben.

«Finsterworld» ist, um es kurz zu machen, ein verdrehtes Gegenwartsmärchen über ein Deutschland, das der Unschuld hinterherjagt, die es niemals zurückerlangen wird, und das sich in Verleugnung, provokative Romantisierung und sture Ignoranz flüchtet, um dieser Erkenntnis aus dem Weg zu geben. Das macht «Finsterworld», oder eher die in diesem Film festgehaltene, auf wichtige, realitätsnahe Parameter verknappte Skizze Deutschlands, zu einem Ort, in dem auch der Naivste und Frömmste nicht ewig in Frieden leben kann, denn Wut, Schuld und Unverständnis können einen jederzeit einholen. Kein Wunder, dass sich das Wohlsein in schräge, aber harmlose Nischen verkriecht …

«Finsterworld» ist auf DVD und Blu-ray erschienen sowie via Amazon, maxdome, iTunes, Google Play, Videobuster, Microsoft, videociety, freenet Video und alleskino abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/103960
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