Die Kino-Kritiker

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Film des Monats: «Fluch der Karibik»- und «Ring»-Regisseur Gore Verbinski erschafft mit «A Cure for Wellness» ein eindringliches Schauergemälde, das faszinierende Nebenwirkungen hat.

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Ein Prozess der Reinigung. Das Hinfortwaschen unserer heutigen Zeit und all ihrer Krankheitserreger, ihrer Verführungen zur unbewussten Selbstgeißelung. Das Entdecken der Schönheit und Ruhe. Aber dazu müssen erst sämtliche Gifte freigesetzt werden. Nur so kann die Krankheit überwunden werden.

Obwohl «A Cure for Wellness» konsequent an Dringlichkeit, expliziten Inhalten und Wahnhaftigkeit gewinnt, so bleibt Gore Verbinski dem schleichenden, atmosphärischen und ambivalenten Anfang bis zum Schluss treu und weigert sich, seinem Publikum konkrete Anhaltspunkte zu liefern, in welche Schublade dieses Genreexperiment denn nun gehört. Deswegen bleibt es jedem Betrachtenden selbst überlassen, welche Diagnose für einen selbst (und den Film) nach dem Abspann angebracht wäre. Damit geht der «Rango»-Regisseur willentlich die Gefahr ein, dass «A Cure for Wellness» die Gemüter weit mehr spaltet, als seine das Publikum deutlicher lenkenden Seefahrtspektakel. Dafür schenkt er dem Publikum ein Kinoerlebnis, das zur Selbstbetrachtung einlädt und das sich parasitär im Hinterkopf festbeißt.

Wie sehr hat uns unsere Arbeit bereits gefangen genommen? Wie illusorisch sind die vielen kryptischen Binsenweisheiten Volmers und die Diagnose „Die Gesellschaft ist krank“? Sind wir tatsächlich schon jetzt „reif für die Kur“? Und ist es wirklich so eine realitätsfremde Vorstellung, dass die Lösung für all unsere Probleme automatisch außerweltlich erscheinen muss, um noch Heilung zu bringen? Häppchenweise werfen uns Verbinski und Haythe Brotkrumen vor die Füße und geben den Weg frei, um trotz des vermeintlich konkreten Handlungsverlaufs munter die Bedeutung, Hintergründe und Aussage des Ganzen zu interpretieren – und um uns selbst zu überdenken. Denn je nachdem, ob wir in «A Cure for Wellness» bloß einen mächtigen Psychohorror sehen, ein ambitioniert erschaffenes, realitätsfremdes Mystery-Szenario oder doch eine uns kurz bevorstehende „Schlimmster Fall“-Diagnose, stellt sich auch die Frage: Gibt es eine Kur? Und wenn ja, sind wir nicht völlig verloren, wenn sie genauso schlimm ist wie die Krankheit, die sie bekämpft?

Neugotik trifft romantischen Jugendstil. Die erfrischend, kühle Bergluft. Und erquickendes Wasser aus einer gar besonderen Quelle. Ich will hier nicht weg. Niemand kommt hier weg.

Gestützt wird die erzählerische Zweischneidigkeit von «A Cure for Wellness» durch das makellose Handwerk Verbinskis und seiner Crew. Obgleich die Handlung fast durchweg in den Schweizer Alpen verortet ist, wurde der Löwenanteil des Films in Deutschland gedreht – und dies nicht etwa an einigen, wenigen Drehorten. Stattdessen baut Verbinski die filmischen Schauplätze mosaikartig durch Eindrücke diverser realer Ortschaften zusammen. So wurden die Aufnahmen der schlossähnlichen Spa-Anlage auf der Burg Hohenzollern gedreht, das Innenleben des Sanatoriums wurde dagegen in den durchaus schaurigen Beelitz-Heilstätten gedreht, der Bahnhof am Fuße der Burg ist der Oberhofer Bahnhof und die Schwimmhalle der Wellness-Oase ist eigentlich das im preußischen Stil gehaltene Johannisbad in Zwickau. Die alltägliche Geschäftswelt wurde hingegen dank der Hafenstadt Hamburg auf Film festgehalten, für andere Szenen wurden wiederum in den Babelsberger Filmstudios aufwändige Sets aufgebaut – die während des Drehs einmal sogar Feuer fingen.

Filmfacts «A Cure for Wellness»

  • Regie: Gore Verbinski
  • Produktion: Arnon Milchan, Gore Verbinski, David Crockett
  • Drehbuch: Justin Haythe
  • Story: Justin Haythe, Gore Verbinski
  • Darsteller: Dane DeHaan, Jason Isaacs, Mia Goth, Adrian Schiller, Celia Imrie, Carl Lumbly
  • Musik: Benjamin Wallfisch
  • Kamera: Bojan Bazelli
  • Schnitt: Lance Pereira, Pete Beaudreau
  • Laufzeit: 146 Minuten
  • FSK: ab 16 Jahren
Trotzdem wirkt dieser Tagalbtraum visuell wie aus einem Guss. Gore Verbinskis Auge für Ästhetik bezieht sich hier nicht bloß auf das Entdecken besonderer Kamerawinkel, mit denen sich penibel genau Dinge wie die Spiegelung der Umgebung vorausplanen lassen. Auch das Zusammenfügen der einzelnen Kulissen gelingt dem Regisseur wie eine nichtige Fingerübung. Er lässt das Wellnesshotel in «A Cure for Wellness» wie ein großes, in seinem undurchdringbaren Aufbau an das Overlook-Hotel aus «Shining» erinnerndes Gebäude erscheinen, hinter dessen Mauern Unheimliches vonstatten geht und der Orientierungssinn schleichend ausgehebelt wird. Allzu weit ist der Vergleich mit Stanley Kubricks Meisterwerk dann auch gar nicht hergeholt: Der Physionomie in diesem Gebäude ist ebenso wenig zu trauen, wie den vielen merkwürdigen Gestalten hier – egal ob Angestellter oder Patient.

Und wie schon Kubrick, dessen Horror-Glanzstück zum Veröffentlichungszeitpunkt noch harsche Kritik einstecken musste, erlaubt sich auch Verbinski, den stringenten Grundkonflikt seiner Story durch in der Schwebe hängende Nebenstränge und die Atmosphäre verdichtende, surreale Details ohne direkten Handlungsbezug zusätzlichen Hall zu verleihen. Außerdem zieht sich durch beide Werke das Gefühl der Unvermeidlichkeit. Bei Kubrick hängt der Wahnsinn schon früh unausgesprochen in der Luft, bei Verbinski werfen rasch Befürchtungen über den Storyverlauf ihre Schatten voraus. Quälende Fragen und verstörende Gedanken lassen das Herzen bis zum Gaumen pochen. Nervosität macht sich breit, welche Befürchtungen sich bewahrheiten. Und welche im Brachwasser versickern. Dorthin, wo die Toxine und anderer Abfall hingehören.

Trotz großer inhaltlicher Unterschiede rückt insofern auch Martin Scorseses «Shutter Island» in Erinnerung, dessen Handlung letztlich eher das Grundgerüst für einen äußerst schaurigen Ausflug an einen garstigen Ort darstellt – und wie Scorsese erhebt auch Verbinski den Schauplatz mittels kunsthandwerklich über allen Zweifel erhabene Umsetzung zu einer weiteren Hauptfigur der Geschichte. Die zweifach für den Academy Award vorgeschlagene Ausstatterin Eve Stewart («The King’s Speech», «The Danish Girl»), die ungewöhnlich eng in die frühen Produktionsschritte involviert war, und die Oscar-prämierte Kostümdesignerin Jenny Beavan («Mad Max: Fury Road») unterstreichen mit ihrer Arbeit das jenseits eines normalen Zeitgefühls spielende Schauerstück durch einen Stil, der rätselhaft-kühl, aber auch beruhigend und stilvoll wirken kann – stets abhängig davon, wie Bazelli die Szenerie ausleuchtet und wie zügig und desorientierend oder verlockend-ruhig die Cutter Pete Beaudreau («Beasts of No Nation») & Lance Pereira («Coherence») den Ablauf einer Sequenz formen.

Kleinere Schönheitsfehler gibt es dennoch zu attestieren: Die an das Kino des alten Hollywoods erinnernden Matte-Bilder, mit denen Verbinski das malerische Landschaftsbild der Schweizer Alpen imitiert, haben, je nach den cineastischen Wurzeln eines jeden Zuschauers, nostalgischen Charme oder wirken etwas verstaubt. Da ist der knarzende Sound, den Verbinski bewusst an den hallende, herbe Spitzen aufweisenden Klang des Horrorkinos aus der Mono-Ära anlehnt, schon pointierter sowie intuitiver eingesetzt. Die vereinzelten Digitaleffekte abseits von Bildkomposition und Ergänzung realer Hintergründe sind letztlich im soliden Mittelmaß – und somit leider klar unter Verbinskis üblichen CG-Standards – angesiedelt. Umso intensiver wickelt Hans-Zimmer-Schüler Benjamin Wallfisch («Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen») alle Filmpatienten, die sich auf Verbinskis Therapieversuche einlassen, um seinen Finger: Der Komponist verwebt seinen paralysierend-extravagante Klangteppich untrennbar mit dem Leinwandgeschehen, statt unauffällig-unterstützend im Hintergrund zu bleiben. Somit trägt Wallfisch maßgeblich dazu bei, «A Cure for Wellness» zu einer Art naturmagisch angehauchter, visueller Gotiksymphonie zu formen – mit verloren-sehnsüchtig-mysteriösen Melodien, bedrohlich-dissonanten Bässen und einer Vielzahl an Verschmelzungen dieser beiden Extreme.

Was ist die Zeit? Ein Geheimnis - wesenlos und allmächtig. Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raums? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie "zeitigt". Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit misst, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebenso gut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier. Die Welt hat einmal sehr viel mehr Platz geboten. Oder ist die Welt weiterhin groß genug, hat nur weniger zu bieten? Ich habe nichts mehr zu tun. Nirgendwo, wo ich hinkann.

Ganz gleich, ob man in diesem tonalen Irrgarten sämtliche Stützpfeiler ausfindig macht, bleibt immer noch ein berauschendes Erlebnis für die Sinne, das besonders eindringlich funktioniert, wenn man sich fallen lässt – und eben nicht schon während des Films aus einer distanzierten Beobachterposition über den Sinn und Unsinn des Gezeigten nachdenkt. «A Cure for Wellness» ist kein nach Schema F funktionierender Genrefilm, sondern ein Experiment. Im wahrsten Sinne des Wortes. Für den Versuchsaufbau unerlässlich sind die Leistungen der Mimen Dane DeHaan («Chronicle»), Mia Goth («Nymph()maniac») und Jason Isaacs («The Infiltrator»), die sich alle willig Verbinskis Vision unterwerfen, und trotzdem nicht verblassen. Egal, ob Isaacs ebenso markig-warme wie beunruhigend-basslastige Stimme, DeHaans undurchschaubar-komplexe Mimik oder das berückende, sinnlich-naiv-rätselhafte Auftreten Goths, die auf den Burgmauern tänzelnd zu den eindringlichsten Bildern des Films zählt: Das Skript verhilft den Darstellern und ihren Figuren schrittweise zu einem individuellen, sich an Genre-Archetypen orientierenden Profil, ohne auch nur im Ansatz die mystischen oder individuellen Tendenzen einzubüßen.

Immer wieder bricht Gore Verbinski in der Figurenzeichnung sowie im Handlungsverlauf gezielt mit den Konventionen, gibt teil deutliche, teils widersprüchliche Hinweise, so dass das Gezeigte stets so wirkt, als könnte es genau den frühen Andeutungen folgen oder in eine ganz andere Richtung gehen – und beides würde nicht schocken. Denn Verbinski verdichtet diesen Suspense zu einem Dickicht aus Geheimnissen, die gar nicht gezielt darauf aus sind, zu schocken – auch Jumpscares sucht man in dem Psychothriller vergeblich (wenn man einmal davon absieht, dass der bereits im Trailer visuell überragend inszenierte Autounfall tatsächlich so plötzlich kommt, dass man sich hier gern erschrickt). Verbinskis Werk entspricht viel mehr einem unterschwellig die Psyche beeinflussenden Wimmelbild aus Horrormotiven, einer Hauptfigur folgend, bei der man nicht weiß, wie tief sie in der Realität verwurzelt ist. Eine ganz eigenartige, dabei hochspannende und definitiv sehenswerte Erfahrung.

Fazit: Gore Verbinskis Rückkehr ins Genrekino ist ein Horrorgemälde von morbider Schönheit, das einen so lange in seinen Bann zieht, bis man selbst nicht mehr weiß, ob das Gezeigte neu, altbekannt, eine echte Warnung oder ein illusorischer Traum ist. Für Horrorfans und Liebhaber des trüb träumenden Kinos ist «A Cure for Wellness» das erste große Must-See 2017!

«A Cure for Wellness» ist ab dem 23. Januar 2017 in vielen deutschen Kinos zu sehen.

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