Sonntagsfragen

Rudi Cerne: 'Hallo?! – natürlich wollen wir Quote machen!'

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Am 18. Januar 2002 übernahm Rudi Cerne die Moderation von «Aktenzeichen XY ... ungelöst». Heute, exakt elf Jahre danach, spricht er mit uns über die guten Quoten der Show, kündigt eine weitere Spezial-Sendung von "Wo ist mein Kind?" an und verrät, ob er in seiner Freizeit hin und wieder Krimis schaut.

Herr Cerne, was halten Sie eigentlich von Scripted Realities?
Reality-TV kenne ich, aber sagen Sie mal kurz: Scripted Reality ist doch so etwas wie es Ingo Lenßen bei Sat.1 präsentiert, oder?

Ja, exakt.
Seit ich ihn kennengelernt habe und wir beide feststellten, dass wir für denselben Eislaufverein gestartet sind, im Krefelder EV war das, er in der Eishockey – und ich in der Eiskunstlaufabteilung waren wir uns gleich sympathisch. Allzu oft habe ich seine und ähnliche Sendungen allerdings nicht gesehen. Allerdings bin ich doch häufig erstaunt über die Leistung der sogenannten Laienschauspieler.

Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie selbst ein Vorreiter der Scripted Realities waren, lange bevor es überhaupt das Privatfernsehen gab.
Mit dieser Kritik kann ich ehrlich gesagt nichts anfangen. Durch die Einspielfilme, die wasserdicht recherchiert sind und das Geschehen detailgenau rekonstruieren, gehen die Fälle bei «Aktenzeichen XY» eben ganz besonders unter die Haut. Wir wollen die Menschen ja erreichen und sensibilisieren und das schaffen wir nur, wenn die Filme auch eindringlich sind. Außerdem: Die Realität ist weitaus dramatischer als das, was wir zeigen. Es gibt auch Kritiker, die sagen, wir senden manchmal Passagen um Quote zu machen oder Effekthascherei zu betreiben. Hallo?! – natürlich wollen wir Quote machen! Denn je höher die Quote ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Zuschauer dabei sind, die gute Hinweise geben können und ein Verbrechen aufgeklärt wird.

Sie haben es schon eben angesprochen: Sie sind selbst Sportler gewesen, noch immer Sportjournalist. Sie selbst sagen, sie pendeln zwischen „Sport und Mord“. Was gefällt Ihnen denn am „Mord“ so sehr, dass Sie «Aktenzeichen XY» schon seit elf Jahren machen?
Der Mord an sich begeistert mich natürlich überhaupt nicht, aber mich beeindruckt, dass diese Sendung etwas bewirkt. Dass durch unsere Sendung Kapitalverbrecher gefasst werden. Wir haben eine Aufklärungsquote von 42 Prozent. «Aktenzeichen» stellt schlagartig eine große Öffentlichkeit her und wenn aufgrund dessen eine Tat geklärt werden kann, sind wir zufrieden.

Öffentlichkeit ist ein gutes Stichwort: In der Vergangenheit haben Sie schon in vielen Interviews eine Erklärung für die in der Tat außergewöhnlichen Quoten finden müssen. Allerdings erlebte «XY» gerade in den letzten Monaten nochmals einen großen Aufschwung. Damit stellt sich das Fahndungsformat dem Trend, dass alle Formate im Deutschen Fernsehen verlieren, eindeutig entgegen. Woher kommt gerade dieses gesteigerte Interesse in der letzten Zeit?
(lacht) Ganz ehrlich: Das weiß ich auch nicht. Die Frage wird mir in der Tat des Öfteren gestellt – ich habe aber keine hieb- und stichfeste Erklärung. Ich erkenne hierbei aber immer Parallelen zu meinem Sport. Damals wurde mir mal geraten, es mal mit einer extravaganten und progressiven Choreographie zu versuchen. Disco-Musik und so weiter und so fort, alles was eben angesagt war. Ich hab’ schnell gemerkt, dass das übrerhaupt nicht meinem Geschmack entsprach und habe mich für eine Stilrichtung entschieden, die völlig konträr zum allgemeinen Trend lief. Ich hab mir gesagt. ’Ich zieh jetzt meinen „Stiefel“ durch. Wenn es gefällt, umso besser und wenn nicht, Pech gehabt.‘ Ich wollte mich einfach nicht verbiegen lassen. Und siehe da, es kam gut an. In «Aktenzeichen» musste ich auch erst reinwachsen.

Dann scheinen Sie jetzt ihre Kür bei «Aktenzeichen XY» sehr gut zu machen…
Ja, der Küranzug passt inzwischen wie angegossen!

In den Dritten Programmen gibt es schon seit längerem zahlreiche Formate, die dem Ihren ähneln. Wie sehen Sie das?
Stimmt, Birgit von Derschau moderiert im MDR sehr erfolgreich eine Sendung, die seit vielen Jahren ausgestrahlt wird: «Kripo live». Ich freue mich über den Erfolg auch dieses Formats. Wir ziehen alle an einem Strang und so können wir noch mehr erreichen in der Verbrechensbekämpfung. Natürlich will jeder Sender auch vernünftige Reichweiten erzielen. Wenn ein anderer Sender plötzlich vor uns läge, müssten wir uns natürlich Gedanken machen. Aber auch das sehe ich sportlich. Konkurrenz belebt das Geschäft.

Glauben Sie eigentlich, dass Fahndungsshows in Zeiten der Facebook-Fahndung noch eine langfristige Zukunft haben?
Klar, warum denn nicht?

Es könnte doch sein, dass Ihnen Facebook langfristig ein bisschen den Wind aus den Segeln nimmt …
Naja, wir wissen ja beide, dass das Internet eine große Konkurrenz für das Fernsehen ist – wir ergänzen uns aber in dem Falle ganz gut. Ich persönlich bin kein Facebook- und Twitter-Nutzer, deshalb kenne ich mich da nicht so gut aus. Aber klar, Facebook hat seine Vorteile, Sie erreichen die Menschen viel schneller als über jeden anderen Weg. Das Fernsehen hat dafür andere Vorzüge.

Unter Ihnen wurde vor nicht allzu langer Zeit auch ein Ableger des Formats eingeführt, der bis jetzt drei Mal ausgestrahlt wurde und den Beinamen „Wo ist mein Kind?“ trägt. Wir waren die Stimmen dazu?
Die Sendung war sehr bedrückend und hat viele Menschen sehr berührt. Das haben die Reaktionen der Zuschauer noch während der Ausstrahlung gezeigt. Die Stimmen der Angehörigen sind für mich sehr eindringlich. Die Chancen, Kinder, die 10 oder 15 Jahre verschwunden sind, wiederzufinden, sind sehr gering – da sind wir bei «Aktenzeichen» ganz realistisch. Aber die Angehörigen haben bestätigt, dass sie sehr froh seien, dass sich noch einmal jemand um ihr Schicksal kümmert und dass sie noch wahrgenommen werden, obwohl die Polizei nicht mehr weiter weiß. Dann bekommen diese Menschen noch einmal ein großes Interesse entgegengebracht – und das beruhigt sie auch ein Stück weit. Das Schlimmste ist für alle die unerträgliche Ungewissheit. Zuletzt sagte mir ein älteres Ehepaar, dass schon seit Jahrzehnten seine Tochter vermisst, dass ihr Auftritt in «Aktenzeichen» der allerletzte Versuch sei, dann wäre Schluss, weil sie es nervlich nicht mehr ertragen könnten. Das waren sehr eindringliche Worte.

Werden Sie den Ableger fortführen?
In diesem Jahr ist zumindest mal eine Folge geplant, ja. Wann wissen wir jetzt aber noch nicht genau.

Eine weitere Besonderheit 2012 war, dass sie den Fall Maria Bögerl sehr detailliert mit einem langen Film von über 30 Minuten betrachtet haben. Wie waren die Zuschauerstimmen zu dem Experiment, das sie damit gewagt haben?
Das war in der Tat sehr mutig von unserer Redaktion. Der Film hat die Menschen gefesselt. Fast sechs Millionen Zuschauer sahen zu. Ich habe den Film drei Mal angeschaut, jedes Detail, jede Sekunde hat mich beschäftigt. Und den Zuschauern und den Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, ist es nicht anders ergangen. Klar, es war auch riskant für «Aktenzeichen» einen Film über 30 Minuten zu zeigen – das gab’s ja schließlich noch nie. Aber vielleicht haben wir damit tatsächlich eine neue Möglichkeit zur Beleuchtung und Betrachtung von Fällen entdeckt.

Das heißt, Sie ziehen es auch zukünftig in Betracht über solch brisante Fälle in einem derartigen Rahmen zu berichten?
Absolut!

Von vielen Menschen weiß ich, dass sie die Fälle aus «XY» teilweise doch sehr bewegen und nach der Ausstrahlung zum Nachdenken anregen. Wie sehr beschäftigen Sie die Fälle aus der Sendung?
Ich kann nach jeder Sendung ruhig schlafen. Aber ich muss auch sagen, dass ich nach den Spezialsendungen „Wo ist mein Kind?“ schon wesentlich mehr angefasst bin. Das wühlt mich auf, weil ich in diesen Sendungen direkten Kontakt zu den Angehörigen habe und deren Fassungslosigkeit hautnah miterlebe. Das ist einer „regulären“ Sendung ja etwas anders, da ich da nur mit den Kommissaren in Kontakt trete. Dort ist die Distanz zu den Fällen größer.

Wie machen Sie das?
Im Laufe der Zeit habe ich da einfach gelernt mir Scheuklappen anzulegen. Ich kann Ihnen dazu keine Technik geben, das haben mir die Kommissare damals so mitgegeben. Eine bestimmte Routine, dass ich zum Beispiel nach der Sendung noch zwei Bier trinke, habe ich nicht. Es gelingt mir ganz gut, einen emotionalen Schlussstrich zu ziehen.

Fallen Ihnen trotzdem einige Fälle spontan ein, die Sie in den vergangenen elf Jahren besonders mitgenommen haben?
Der Fall Maria Bögerl hat mich natürlich besonders bewegt. Wir hatten ihn insgesamt drei Mal in der Sendung. Dann ist mir noch der Fall Levke Straßheim aus dem Jahr 2004 sehr gegenwärtig. Wir hatten ihn zunächst als Vermisstenfall in «XY». Der Polizei war allerdings schnell klar, dass es sich hierbei um eine Straftat handelte und man das Schlimmste befürchten musste. Und so war es leider auch: Das Kind ist missbraucht und ermordet worden. Wir hatten den Fall filmisch umgesetzt und die kleine Darstellerin sah Levke sehr ähnlich. Dadurch wirkten die Szenen sehr authentisch und eindringlich. Der Täter stolperte schließlich über das taktische Konzept der Polizei, zu der auch die massive Fernsehfahndung gehörte. Und noch ein dritter Fall hat mich sehr berührt: Ein junges Ehepaar ist 2009 im Spandauer Forst bei Berlin joggen gegangen und weil sie ein unterschiedliches Lauftempo hatten, haben sie sich im Park getrennt – er ist rechts herum und sie links herum gelaufen. Und auf ihrem Weg ist die Frau dann Zufallsopfer eines Mörders geworden, der mehrmals auf sie eingestochen hat. Passanten haben die Frau später gefunden und wollten ihr noch helfen, aber sie sagte nur noch sterbend in den Armen dieser Menschen: ,Sagen Sie meinem Mann, dass ich Ihn liebe.‘ Das war ziemlich heftig.

«Aktenzeichen XY» verleiht seit nunmehr elf Jahren ebenfalls den „XY-Preis“ für Menschen, die in schwierigen Situationen besondere Courage gezeigt haben. Welchen Stellenwert räumen Sie der Zivilcourage in unserer Gesellschaft ein?
Einen sehr großen Stellenwert. Die Idee zum „XY-Preis“ ist 2002 von unserer Redaktionsleiterin Ina Maria Reize und Eduard Zimmermann in enger Zusammenarbeit mit der Polizei erwachsen. Wir haben eine gute Polizei, Deutschland ist insgesamt ein sicheres Land. Aber trotzdem ist es wichtig, dass im Falle einer Straftat die Menschen nicht weggucken, sondern dass sie etwas unternehmen und in irgendeiner Form aktiv werden. Das geht mit ganz einfachen Mitteln, keiner muss sich selbst in Gefahr bringen und den Helden spielen. Aber eine Öffentlichkeit herzustellen und aus sicherer Distanz die Polizei anzurufen, sollte eigentlich jedem möglich sein. Die Menschen, die in solchen Situationen richtig reagieren sind einfach Vorbilder und haben den „XY-Preis“ zu Recht verdient. Und ich freue mich jedesmal, wenn wir diese Menschen in unserer Sendung einem großen Publikum vorstellen können.

Cid Jonas Gutenrath, Polizist in Berlin und Autor, warnt eindringlich vor Zivilcourage: Zwar solle man beim Beobachten eines Verbrechens stets die Polizei rufen und sich den Täter gut einprägen, er warnt allerdings davor, selbst einzugreifen. Um ihn einmal zu zitieren: „Man kann und darf nicht von jedem Verlangen, über sich hinaus zu wachsen und besonderen Mut an den Tag zu legen, auf einem Terrain, auf dem er sich einfach nicht auskennt. Man bringt den Helfer damit nur in eine unzumutbare Lage und hilft dem Opfer damit meist wenig.“
Ja, ich stimme ihm da zu 100 Prozent zu. Sie versuchen da jetzt einen Widerspruch herauszufinden, den es aber gar nicht gibt. Das ist im Grunde genommen genau das, was wir auch sagen. Aus der Distanz beobachten, die Polizei anrufen und eventuell die Distanz noch vergrößern. Ich weiß auch nicht wie ich reagieren würde, wenn ich Zeuge eines Verbrechens würde. Ich weiß nicht, ob ich in diesem Moment überhaupt nachdenken könnte. Um es noch einmal zu betonen: «XY» animiert nicht dazu, sich selbst in Gefahr zu bringen. Das kann von niemandem erwartet werden.

Das ZDF zeigt an fast allen Wochentagen zur Primetime Fiktionales – nicht selten ist da auch ein Krimi dabei. Schauen Sie in Ihrer Freizeit eigentlich gerne Krimiserien oder sind die Fälle Ihnen zu unrealistisch?
Absolut! Ich bin aber keiner der jeden Freitagabend seinen ganz bestimmten Lieblingskrimi sehen muss. Obwohl, «SOKO Leipzig» sehe ich relativ häufig. Mal mehr, mal weniger, bleib ich beim «Tatort» hängen. Aber diese Serien haben wenig mit der echten Polizeiarbeit zu tun. Mir hat mal ein Kommissar bei «Aktenzeichen» gesagt: Das einzige, das zwischen Fiktion und Realität übereinstimmt ist, dass in beiden Kommissariaten immer die Kaffeemaschine läuft (lacht). Nein, hinter den Fällen steckt in der Realität ja auch sehr viel Büroarbeit. Im TV muss der Fall ja in 45 Minuten gelöst sein, wir wissen aber, dass es in der Realität unter Umständen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauert. Die Kommissare müssen immer dran bleiben. Das ist also eine komplett andere Welt.

Herr Cerne, Sie feiern heute ihr elfjähriges Jubiläum bei «Aktenzeichen XY». Kommen jetzt die nächsten 11 Jahre, oder streben Sie andere Ziele an?
Nein, ich bin sehr glücklich mit «Aktenzeichen», ich bin sehr froh, dass wir mit dieser Sendung etwas bewirken können. Wir zeigen nichts wegen des Grusels, sondern es geht darum Hinweise zu bekommen. Diese Sendung dient dazu Kriminalität zu bekämpfen, ganz im Sinne des Erfinders Eduard Zimmermann. Daran hat sich in 45 Jahren nichts geändert - und im Übrigen ist «Aktenzeichen» ja auch eines der wenigen deutschen Formate, das auch in den USA übernommen wurde. Unter dem Titel «America‘s Most Wanted», läuft die Sendung dort seit vielen Jahren mit großem Erfolg. Erstaunlich, denn normalerweise werden die amerikanischen Formate in Europa kopiert. «Aktenzeichen» ist also da die rühmliche Ausnahme. Und die Idee ist ja wirklich einzigartig. Wir arbeiten kontinuierlich daran, das Format weiter zu entwickeln. Ganz nach dem Motto: Nach der Kür ist vor der Kür!

Wo Sie es gerade ansprechen: Wissen Sie, in wie viele Länder «Aktenzeichen» verkauft wurde?
Sie können «XY» insgesamt in zehn Ländern sehen, neben Amerika und Kanada auch in England, Irland, Israel, Italien, Polen, Schweden, Ungarn und den Niederlanden.

Herr Cerne, ganz zum Schluss vielleicht noch kurz zum Sport: Am Samstag starteten unsere Handballjungs in die WM. Was trauen Sie der Truppe 2013 nach einigen Jahren des Misserfolgs zu?
Ich kenne einige aus dem Team sehr gut, ich hatte die gesamte Mannschaft unter Heiner Brand 2004 mal zu Gast im «Sportstudio». Das war natürlich noch eine andere Generation. Das aktuelle Team hatte sich zu den olympischen Spielen in London leider nicht qualifizieren können. Handball steckte in der Krise, aber Krise kommt aus dem Griechischen „Krisis“ und heißt wörtlich übersetzt „Wende“. Die ersten Schritte dazu sind gemacht, wie jetzt gerade die Siege gegen Argentinien und Montenegro gezeigt haben. Also, warum sollte es nicht wieder ein bisschen nach oben gehen?

Herr Cerne, herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch und alles Gute im Jahr 2013.
Vielen Dank!

Die nächste Ausgabe von «Aktenzeichen XY ... ungelöst» zeigt das ZDF am 27.Feburar 2013 live ab 20.15 Uhr

Kurz-URL: qmde.de/61557
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