Kino

Extrem unabhängig und unglaublich unmusikalisch

von
Seite 2

Die Academy macht die Song-Kategorie zur Farce


Gerade einmal zwei Lieder wurden als bester Song nominiert: „Man or Muppet“ aus «Die Muppets» und „Real in Rio“ aus «Rio» – quantitativ ein neuer Negativrekord! Seit mehreren Jahrzehnten sind eigentlich fünf Nominierungen üblich, doch schon bei der 78. und 81. Oscar-Verleihung gab es nur drei nominierte Lieder. Und auch vergangenes Jahr wurde diese Kategorie nicht komplett ausgefüllt: 2011 wetteiferten nur vier Kompositionen um den begehrten Goldjungen. Bei der 81. Oscar-Verleihung konnte man noch mit Müh und Not für die ungewöhnliche Entscheidung Academy argumentieren. Damals standen abseits der nominierten Lieder vornehmlich Songs aus «High School Musical 3» und «Repo! The Genetic Opera!» zur Auswahl, was ja nicht jedermanns Geschmack treffen muss.

Mittlerweile sollte es jedoch überdeutlich sein: Das Abstimmsystem in der Kategorie "Bester Song" hat dringend eine Generalüberholung nötig! In dieser Oscar-Sparte ist es nämlich möglich, gegen einen potentiellen Nominierten zu stimmen. Die für diese Kategorie stimmberechtigten Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts & Sciences bekommen im Vorfeld der Nominierungsphase sämtliche qualifizierten Lieder vorgeführt und benoten diese auf einer Punkteskala. Nur Lieder, die einen bestimmten Durchschnittswert erreichen, werden nominiert. Rein theoretisch lässt sich so ganz bewusst das Oscar-Rennen beeinflussen, indem man potentielle Konkurrenz für seine Favoriten besonders harsch benotet.

Und angesichts des musikalischen Kinojahrs 2011, das keinesfalls eine so magere Oscar-Ausbeute rechtfertigt, lässt sich problemlos mutmaßen, dass diese hinterlistige Methode wirklich praktiziert wird. Allein schon im hervorragenden Film «Die Muppets» lassen sich mit „Life's a Happy Song“ und „Pictures in My Head“ zwei weitere Lieder finden, die Oscar-würdig wären (selbst wenn das fragwürdige Oscar-Reglement es neuerdings verhindert, mehr als zwei Lieder aus nur einem Film zu nominieren). Insgesamt qualifizierten sich 39 Songs für eine Nominierung. Und es sollen allen ernstes nur zwei davon gut genug für eine Nominierung sein? Das riecht nach Schiebung!

«Extrem laut und unglaublich nah» als "Bester Film"


«Extrem laut und unglaublich nah» ist der bereits dritte Film des Regisseurs Stephen Daldry, der als bester Film für einen Academy Award nominiert wird. Eine erstaunliche Leistung, hat der 51-jährige Engländer doch bislang nur vier abendfüllende Filme gedreht. Die Nominierung für sein jüngstes Werk, die Romanadaption «Extrem laut und unglaublich nah», ist jedoch nicht nur erstaunlich, sondern auch außerordentlich frustrierend. In diesem Film geht es um einen zehnjährigen Jungen, der eine gute Beziehung zu seinem Vater hegt. Als der fürsorgliche Vater bei den Anschlägen vom 11. September ums Leben kommt, hält das aufgeweckte Kind wie besessen nach einem mysteriösen Schlüssel fest, den es in den Sachen seines Papas gefunden hat. Der restliche Film handelt von der verbissenen Suche nach der Sache, die sich mit dem Schlüssel aufschließen lässt. Während die Buchvorlage trotz dick aufgetragener Sentimentalitäten durchaus wohlwollend aufgenommen wurde, musste die Kinoversion von «Extrem laut und unglaublich nah» für ihren derben Kitsch, die durchkalkulierte Gefühlsmanipulation der Zuschauer und moralischen Opportunismus sehr viel Kritik einstecken.

Lobende Worte fand sich in den Medien fast ausschließlich nur für die Darsteller, das Szenenbild und zuweilen auch Alexandre Desplats Filmmusik. An der Nominierung für Nebendarsteller Max von Sydow ist also nichts auszusetzen. Als Gesamtwerk ist «Extrem laut und unglaublich nah» hingegen berechnendes Betroffenheitskino mit aufgesetzt optimistischen Zwischentönen, ganz im Stile von Daldrys «Der Vorleser». Auch dieser Oscar-nominierte Film nahm sich düsteren Stunden der Menschheitsgeschichte an, um sie mit unplausiblen, melodramatischen Zwischenmenschlichkeiten und der Hilfe talentierter Schauspieler zu einer unehrlich lebensbejahenden Oscar-Bettelei zu formen.

Dass sich genügend Academy-Mitglieder wieder von diesem pseudo-intellektuellen Gefühlskino um den Finger wickeln ließen, ist ein kleines Armutszeugnis für den prestigeträchtigsten Filmpreis der Welt. Mehr noch: So lange solch unehrliche Oscar-Ware wie «Extrem laut und unglaublich nah» wertvolle Stimmen erhält, werden Entwicklungen wie die diesjährige Öffnung gegenüber dem unabhängigen Autorenfilm Momentaufnahmen bleiben. Nächstes Jahr verlebt die Academy vielleicht eine etwas kommerziellere Phase, im Jahr danach erhalten womöglich ein paar düstere Filme Oscar-Anerkennung. Letztlich aber bleibt stets dieser eingefahrene Geschmack vieler Academy-Mitglieder ein dominantes Element, das richtige Überraschungen verhindert. Und dieses wird Jahr um Jahr für Frust bei Filmliebhabern jedweder Couleur sorgen ...

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