Die Kino-Kritiker

«Wir» - Dein schlimmster Feind bist Du selbst!

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Film des Monats: Nach seiner oscarprämierten Horrorsatire «Get Out» kommt mit «Wir» ein neuer, symbolträchtiger Albtraum von Jordan Peele in die deutschen Kinos.

Filmfacts: «Wir»

  • Start: 21. März 2019
  • Genre: Horror
  • Laufzeit: 116 Min.
  • FSK: 16
  • Kamera: Mike Gioulakis
  • Musik: Michael Abels
  • Buch und Regie: Jordan Peele
  • Darsteller: Lupita Nyong’o, Elisabeth Moss, Anna Diop, Winston Duke, Tim Heidecker, Shahadi Wright Joseph
  • OT: Us (USA 2019)
Mit seinem Regiedebüt «Get Out» gelang es dem eigentlich vorwiegend als Komiker bekannten Jordan Peele vor zwei Jahren, das Horrorkino um einen modernen Klassiker zu ergänzen; um eine mit vielen komödiantischen Motiven versehene Satire auf eine – im wahrsten Sinne des Wortes – Schwarz-Weiß-Gesellschaft innerhalb der USA. Als kurze Zusammenfassung: In «Get Out» tritt ein Afroamerikaner bei den Schwiegereltern seiner weißen Freundin an – und findet sich schon bald in einem Albtraum aus offen ausgelebtem Rassismus wieder. Peele versteht das Spiel mit Gegensätzen, mit dem Unausgesprochenen, der unterschwelligen Bedrohung. Doch dieses Unterschwellige hat er für «Wir» nun abgelegt. Sicher auch, weil er jüngst erst zu Protokoll gab, ein wenig enttäuscht darüber gewesen zu sein, dass sich bei «Get Out» nicht alle einig darüber waren, wirklich einen Horrorfilm zu sehen. Zu dominant sei hier der überzeichnende Humor, dabei sei der Filmemacher selbst ein riesiger Horrorfan und wollte vor allem eines: seinen Zuschauern Angst einjagen!

Eines ist Peele gelungen: Im Falle von «Wir» besteht nun ganz gewiss kein Zweifel mehr daran, welchem Genre der Film angehört. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass sich der erneut für Skript und Regie verantwortlich zeichnende Peele hier mit Einfältigkeit zufriedengibt; im Gegenteil. «Wir» ist zwar unweit derber und auch direkter in seiner Horrormotivation, aber der Film hat es vor allem intellektuell in sich und ist ein faszinierendes Spiel mit Symboliken und Assoziationen.

Es sind wir!


Familie Wilson freut sich auf ihren langersehnten Urlaub. Adelaide (Lupita Nyong’o), ihr Ehemann Gabe (Winston Duke) sowie die beiden Kinder Zora (Shahadi Wright Joseph) und Jason (Evan Alex) fahren an einem sonnigen Wochenende nach Santa Cruz, um hier die Zeit am Strand zu genießen und endlich mal wieder ihre Freunde, die Tylers (Elisabeth Moss und Tim Heidecker), zu treffen. In ihrem Ferienhaus angekommen, fühlt sich Adelaide aber schon bald unwohl. „Wie eine große schwarze Wolke“ hängt eine Atmosphäre der Angst über ihr. Merkwürdige Zufälle häufen sich und als ihr Sohn für ein paar Minuten wie vom Erdboden verschwunden ist, entsteht in der besorgten Mutter der Wunsch, möglichst schnell wieder heimzufahren. Doch dazu soll es nicht kommen. Eines Nachts steht eine mit Scheren bewaffnete Familie in der Einfahrt der Wilsons. Vier Menschen, ein Ehepaar und zwei Kinder, die aussehen wie die Familie, die sie gerade überfallen, scheinen einen finsteren Plan zu verfolgen. Wer sind diese Doppelgänger und was haben sie vor?

Hasen, Ballerinen, Scheren oder auch einfach nur der sich wie ein roter Faden durch den Film ziehende Song «I Got 5 On it» von Luniz (der übrigens auch im Film selbst exakt so mit Michael Abels bedrohlichem Instrumentalscore verschmilzt wie schon im Trailer angedeutet): Es ist ganz egal, an welchem Detail von «Wir» man als Zuschauer ansetzt, recherchiert man anschließend die symbolische Bedeutung der einzelnen Motive, eröffnen sich einem weitere, unzählige interpretative Ebenen, die – so viel können wir spoilerfrei verraten – in erster Linie die Idee der Zusammenführung von Gegensätzen forcieren. Schon immer galt der Doppelgänger an sich als das böse, seelenlose – kurzum: das gegenteilige – Ebenbild des Menschen selbst. Nun lässt Jordan Peele diese beiden, also Gut und Böse, direkt aufeinander treffen und erschafft daraus ultimativen Schrecken. Plötzlich müssen wir uns auch mit den finstersten Ecken in unsere Seele auseinandersetzen, die sich doch sonst eigentlich immer so schön ignorieren lassen.

Doch bei diesem simplen Gedankengang belässt es der Autorenfilmer nicht und er eröffnet auch nicht direkt mit einer solchen Wucht an zum Weiterdenken einladenden Motiven. Wie eingangs erwähnt, will Peele erst einmal Schrecken erzeugen. Und das gelingt ihm, indem er «Wir» als klassischen Home-Invasion-Schocker etabliert. Nur eben mit der Variation, dass die, die hier die Familie Wilson terrorisieren, exakt so aussehen, wie sie selbst.

Doch hinter dem sich zu Beginn auf die vier Wände der Wilsons beschränkenden Schreckensszenario stecken noch weitaus größere Dimensionen, die Jordan Peele bereits mithilfe einer Texttafel am Anfang des Films sowie mit einem diffus interpretierbaren Prolog ankündigt. Was genau dahinter steckt, dürfte man allerdings erst begreifen, wenn man den Film bereits gesehen hat (weshalb man «Wir» direkt nach dem Ende eigentlich direkt nochmal sehen will). Dabei spiegelt der Wechsel des Settings – vom Ferienhaus der Wilsons nach draußen auf die offenen Straßen von Santa Cruz – hervorragend wider, wie sich auch die erzählerischen Aspekte langsam vom kleinen überschaubaren Konflikt hin zur großen Verschwörung verlagern; darüber hinaus macht Peele dadurch relativ zügig deutlich, dass er mit «Wir» in übernatürliche Sphären abdriftet. „Wir“ spielt nicht in unserer Realität. Doch was Jordan Peele hier genau kreiert, sei aus guten Gründen nicht verraten. Das ist anders als noch im Falle von «Get Out». Hier hielt der Filmemacher und Geschichtenerzähler lange Zeit damit hinterm Berg, in welcher Welt seine Satire nun eigentlich verankert ist.

Gar nicht so unterschiedlich zu «Get Out» ist dagegen sein auch hier an den Tag gelegter Stilwillen. Abgesehen von den vielen Symbolmotiven, die sich trotz ihres bisweilen so beliebig anmutenden Auftritts (Stichwort: Hasen) letztlich doch immer auch erzählerisch in das große Ganze fügen, unterliegt der Film einer klaren visuellen Ordnung. Inklusive einem auf rote Details fixierten Farbkonzept, surreal-beklemmenden Kamerafahrten (Mike Gioulakis, «It Follows») und radikal durchchoreographierten (Alb-)Traumsequenzen, die mehr und mehr mit der Realität verschwimmen, bis man getreu dem Erzählkonzept schlussendlich gar nicht mehr weiß, in welcher Welt man sich hier eigentlich gerade befindet.

Vor allem die Idee, sowohl die Protagonisten, als auch ihre jeweiligen Doppelgänger von ein und denselben Darstellern verkörpern zu lassen, trägt dazu bei, dass sich «Wir» ganz langsam seinen Weg ins Unterbewusstsein der Zuschauer bahnt. Lupita Nyong’o (Oscar für «12 Years a Slave»), Winston Duke («Black Panther») sowie die beiden Newcomer Shahadi Wright Joseph und Evan Alex, die hier ihr Langfilmdebüt geben, agieren je nachdem, welche Figur sie gerade spielen, vollkommen unterschiedlich. Trotzdem nimmt man ihnen die Verkörperung ihrer im wahrsten Sinne des Wortes gegensätzlichen Charaktere zu jedem Zeitpunkt ab. Sie werden zu einer Art negativem Spiegelbild ihres Gegenübers, reden mal gar nicht, dann wiederum so, als würden sie beim Sprechen ein- statt ausatmen (David Lynch hätte vermutlich seine helle Freude daran), was körperlich übrigens nur sehr wenige Worte hintereinander möglich ist. Sie fokussieren ihr anderes Ich, umtänzeln es und morden schließlich auch – und das in «Wir» auch deutlich blutiger, als es noch in «Get Out» zu sehen war.

Klassische Jumpscares, also Szenen, in denen durch ein plötzliches Geräusch oder ein auf einmal aufblitzendes Bild das Hochschrecken aus dem Kinositz forciert wird, gibt es hier nur sehr vereinzelt. Und auch dann fährt einem der Schrecken vor allem deshalb in die Glieder, weil das auf der Leinwand Gezeigte gerade kaum greifbar ist. In «Wir» fühlt sich von Beginn an alles irgendwie entrückt an. Alles, außer die vier Protagonisten. Bis man sich im Laufe der 120 Minuten die Frage zu stellen beginnt, ob es nicht vielleicht doch eher diese sind, die hier nicht ins Bild passen. Doch das wirklich Gruselige an «Wir» ist letztlich vor allem der Gedanke über sich selbst: Wie viel Böses steckt eigentlich in uns?

Fazit


«Wir» ist gruseliger als «Get Out», fordert den Zuschauer gedanklich aber auch noch mehr heraus. Aus einem sehr effektiven, äußerst blutigen Home-Invasion-Schocker wird ein symbolträchtiges Spiel mit dem klassischen Verständnis von Gut und Böse. Am Ende weiß man nicht mehr, ob man diese Grenze wirklich ziehen kann.

«Wir» ist ab dem 21. März bundesweit in den deutschen Kinos zu sehen.

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