Die Kino-Kritiker

«Einsamkeit und Sex und Mitleid»

von

Fernseh- und Theaterregisseur Lars Montag feiert mit der Romanadaption «Einsamkeit und Sex und Mitleid» ein fulminantes, nahezu unvergleichliches Kinodebüt, das man gesehen haben muss.

Seite 3

Mitleid


Erstmal in Lars Montags und Helmut Kraussers wilder Mixtur aus spinnennetzartigem Beziehungsgeflecht, kaleidoskopischer Gegenwartskarikatur und satirischer Bestandsaufnahme der desaströsen Lage der Zwischenmenschlichkeitsnation gefangen, kommt es zu einem kleinen Wunder. Einem Wunder namens Mitleidsregung: «Einsamkeit und Sex und Mitleid» hat sehr deutsche Archetypen. Und ist narrativ ein sehr undeutscher Film. Setzt er doch weder auf eine Dauerparade an leichtgängiger, zur Identifikation einladender (und seichter) Komik, um Empathie für seine Figuren zu erzeugen. Noch wird dem Publikum mit dem Holzhammer eingebläut, sich ja nicht wie die sich fehlverhaltenden Protagonisten zu geben, will man genüsslich sein Dasein fristen. «Einsamkeit und Sex und Mitleid» ist ein Film voller Selbstsucht und über die Folgen mit ausgefahrenen Ellenbogen durchgeführter Selbstsuche – jedoch lehrt er ohne mahnenden Zeigefinger Empathie.

Dies gelingt, weil «Einsamkeit und Sex und Mitleid» ganz beiläufig eine einleuchtende, doch all zu leicht aus dem Sinn flüchtende Erkenntnis verfolgt: Jeder Mensch schlüpft in zahlreiche Rollen – und die Übergänge sind teils fließend, teils abrupt. Das werden sich nur wenige eingestehen wollen, trotzdem ist es eine schnell überprüfte Feststellung – der sich nicht nur Swentja Pfennig (Lilly Wiedemann) verwehrt. Sie sieht sich als Heldin ihrer modernen Teenie-Lovestory: Ihr begegnet ein heißer Araber, der sie lecken will, worauf sie sogar Bock hat – zumindest unter ihren Bedingungen. Für ihren dauerbetrübten Vater ist die mürrische Swentja dagegen ein weiterer Grund, Frust zu schieben – und was soll erst der hoffnungslos verliebte Johnny über Swentja sagen?

Auch die weiteren zentralen Figuren in «Einsamkeit und Sex und Mitleid» sind mal die Helden ihrer eigenen Geschichte, mal die Sidekicks oder Handlanger und dann auch mal die Schurken – vielleicht abgesehen von Maria Hofstätter als ranzige, krakeelende Mutter/Ehefrau Maschonjonka Pfenning. Aber selbst sie darf ihre verabscheuungswürdige Art aus völlig konträren Motivationen wachsen lassen – und mal berechtigt (aber übertrieben) Beamten ankeifen. Oder mal wieder den völlig unter ihrem Pantoffel stehenden Ehegatten kleinmachen, einfach, weil … Darum!

Diese sich verschiebenden Perspektiven, die bei Maschonjonka Pfenning noch überschaubare Auswirkung haben mögen, entfalten über die gesamte Filmlänge eine enorme Kraft. Montags Debüt lässt die schlichte Figurenzeichnung üblicher Großproduktionen zum Thema Beziehungsleben ebenso hinter sich, wie die stocksteife, sich und die Gesellschaft geißelnde Tonalität diverser Arthouse-Beziehungsanalysen, um dem Publikum einen widersprüchlichen, und daher so wirksamen und beschämend wirklichkeitsnahen, Wust an Charakterisierungen entgegenzuschleudern.

Und so kann es einem jeden Menschen im Saal mehrmals passieren, dass er im Hinterkopf seine aus einer Einzelsituation heraus gewonnene Sympathie für eine Figur eilig revidiert und fortan nicht mehr davon abrückt, weil ihre politische Ideologie klar wird. Oder dass eine gemeinhin gemochte Figur durch einen Nebensatz in einer anderen Handlung plötzlich für Ungesehenes verurteilt wird – aber auch nur dafür! Dieses Spiel mit dem Mitleid setzt sich in allen erdenklichen Konstellationen fort. So führt «Einsamkeit und Sex und Mitleid» meisterlich vor: Vermeintlich gute Menschen können Böses tun, wiederholt garstig handelnde Menschen können situativ bedingt sympathisch werden. Damit verpasst Lars Montag unserer Empathie ein Powertraining. Ein Powertraining, das dringend mal wieder nötig war.

Du. Ich. Fazit.


2013 brachte Frauke Finsterwalder mit ihrem Ensemblefilm «Finsterworld» eine fies-märchenhafte Momentaufnahme deutscher Obsessionen ins Kino. Vier Jahre später stellt «Einsamkeit und Sex und Mitleid» das perfekte Addendum dar:

Lars Montags Romanadaption ist nicht ganz so abgrundtiefböse-gallig, sondern hat ein pochendes Herz. Es mag stark angeschlagen und blaumütig sein, trotzdem beseelt es diesen durchweg formidabel gespielten, wundervoll gestalteten Film, dessen Synapsen vor genresatirischem Kommentar und dramatisch-mitleidiger Beleuchtung moderner Beziehungsträume und -traumata nur so durchglühen.

Wahrlich kein Film, den jedermann in den richtigen Hals kriegen wird – aber einer, der niemandem zu intensiv empfohlen werden kann!

«Einsamkeit und Sex und Mitleid» ist ab dem 4. Mai 2017 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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