Sonntagsfragen

'Wir haben sehr viel Selbstreflexion betrieben'

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Quotenmeter.de hat «Alles steht Kopf»-Regisseur Pete Docter und -Produzent Jonas Rivera im Roundtable-Interview getroffen: Wie ist der neue Pixar-Hit entstanden, wie ticken ihre Kollegen aus der Trickfilm-Traumfabrik und verstehen Kinder das intellektuelle Konzept des Films?

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Haben auch die Originalsprecher der Figuren eine Rolle in der visuellen Gestaltung gespielt? Beim Kleidungsstil von Wut kann man schon auf den Gedanken kommen, dass er an Lewis Black angelehnt ist …
Pete Docter: Im Fall von Lewis Black ist es so, dass er uns schon sehr früh vorschwebte. Bereits als ich das generelle Konzept vorgestellt habe, meinte ich: „Und nun überlegt mal, wie lustig es wäre, wenn wir Lewis Black als Wut bekommen würden!“ Das war so ein Moment, in dem alle meinten: „Oh, ja, das ist super!“ Es könnte also schon sein, dass unterbewusst Blacks Auswahl an Hemden im Designprozess auf Wut abgefärbt hat. Aber nahezu das gesamte Sprecherensemble kam erst an Bord, nachdem wir die Designs festgelegt haben.

Das heißt aber nicht, dass die Sprecher keinen Einfluss auf den Film an sich hatten. Am ersten Arbeitstag von Amy Poehler, der Originalstimme von Freude, haben wir keine einzige Sekunde an Tonmaterial aufgenommen. Stattdessen haben wir mit ihr als Autorin zusammengearbeitet. Ihr kamen viele wundervolle Ideen, wie Freude etwas ausdrücken würde. Einige von Freudes besten Kommentaren entstanden an diesem Tag. Überhaupt hat Amy einen wertvollen Beitrag geleistet. Denn es war sehr schwer, Freude als Figur richtig hinzubekommen. Daher war uns jede Hilfe, die uns geboten wurde, sehr willkommen! Ganz am Anfang in der Entwicklung des Films war Freude noch unentwegt glücklich und überschäumend! Man wollte einfach nur vor ihr davonlaufen. Oder ihr eine reinhauen! Amy war essentiell darin, dieses Problem zu überkommen. Um aber wieder auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Auch wenn die Sprecher beim Design keinen Einfluss dargestellt haben, ist es so, dass wir die Sprecher im Tonstudio aufnehmen. Und die Animatoren lassen sich dann von den der Mimik, den Gesten und auch von den kleinen Macken der Sprecher inspirieren. Insofern hatten sie also schon einen Einfluss darauf, wie sich die Figuren auf der Leinwand geben.

Pixars "Brain Trust"

Sämtliche Filme der Pixar Animation Studios werden im Laufe ihrer Produktion regelmäßig mit Argusaugen von den führenden Kreativköpfen des Studios geprüft. Diese Gruppe nennt sich der "Brain Trust" und besteht aus Studio-Mitgründer John Lasseter, «Findet Nemo»-Regisseur Andrew Stanton, «Alles steht Kopf»-Regisseur Pete Docter, Lee Unkrich, «Ratatouille»-Regisseur Brad Bird, Sound-Genie Gary Rydstrom, «Oben»-Macher Bob Peterson und Produzent Brad Lewis.
Die Art, wie Pixar Filme produziert, ist generell sehr faszinierend. Insbesondere der sogenannte „Brain Trust“. Ich frage mich seit jeher, wie die Interaktion zwischen Ihnen allen ist, wenn der Trust einen in der Produktion befindlichen Film analysiert. Ich kann mir nur von zwei Mitgliedern ein Bild machen: Basierend darauf, wie sie in Making ofs auftreten, würde ich Brad Bird als den Aufbrausenden dieser Gruppe einschätzen und Andrew Stanton als den Grübler ..?
Pete Docter: In Wirklichkeit ist es genau anders herum.

Jonas Rivera: Ja! Sehr interessant, dass die Beiden nach außen so anders wirken.

Pete Docter: Andrew kommt sehr oft extrem wütend rüber. Er läuft knallrot an, wenn er sich in etwas verrennt. Und dann gestikuliert er auch wild herum, und man schreckt erst einmal vor ihm zurück. Wenn man ihn aber kennt, weiß man, dass er das nur macht, weil er mit solcher Passion dabei ist. Er ist sehr hitzköpfig. Brad ist zwar auch sehr passioniert, und es kann vorkommen, dass er sich auf den Tisch stellt, wenn er was loswerden will, aber bei ihm klingt es nicht so wütend. (schmunzelt) Der Brain Trust ist generell eine sehr hingebungsvolle und meinungsstarke Gruppe, aber sie alle konzentrieren sich auf ein gemeinsames Ziel. Nämlich darauf, aus diesem unkonkreten Etwas einen starken Film zu machen. Niemandem geht es darum, sich zu profilieren, alles dreht sich um gute Arbeit. Selbst wenn es für Außenstehende nicht immer so aussehen dürfte, wenn sich der Brain Trust zankt.

Wir hatten schon Fälle, dass Besucher nach einer Besprechung zu mir kommen und fragen: „Wow, das war hart! Geht es dir gut?“ Aber meine Antwort ist dann stets: „Na klar!“, denn selbst wenn es vielleicht so aussieht, als würden wir uns persönlich angreifen, ist uns im Brain Trust bewusst, dass wir alle an einem Strang ziehen. Selbst wenn das nicht immer Spaß macht.

Jonas Rivera: Ja, es wird mit harten Bandagen gekämpft. Aber es ist letzten Endes stets sehr hilfreich. Und, um auf die Frage zurückzukommen: In meinen Augen betrachtet Andrew Dinge nahezu durchgehend aus der Sicht eines Autoren. Er sagt so etwas wie: „Ich weiß nicht, wieso ich mich um deine Figur sorgen sollte. Da stimmt etwas nicht!“ Er deckt Fehler auf, die meistens mit der Charaktierisierung oder Struktur zu tun haben. Bird agiert immer wie ein sehr passionierter Regisseur. Wenn du in einer Besprechung eine Idee ansprichst? Ehe du dich versiehst, hat er schon die Inszenierung für dich parat und er rennt durch den Raum: „Dann passiert dies, und wir zeigen das aus dieser Perspektive, und jenes ist dann wie in der einen Szene aus «Jäger des verlorenen Schatzes»!“ Er ist einfach dieses wandelnde Filmlexikon!

Und John Lasseter wiederum hat seinen Finger sprichwörtlich am Puls des Publikums. All seine Memos haben damit zu tun, wie das Publikum wohl reagieren wird, und was es denken oder fühlen sollte … Der Ruhige in der Gruppe ist Lee Unkrich, der Regisseur von «Toy Story 3». Er ist ein sehr wichtiges Mitglied, denn er denkt sehr präzise und cineastisch. So ergibt sich ein wunderbares Team, bei dem sich alle gegenseitig den Ball zu spielen! Dadurch erhalten wir richtig gute Rückmeldungen auf unsere Filme.

In Wahrheit gibt es nur selten eine generelle Übereinkunft oder eine demokratische Gruppenentscheidung. Am Ende des Tages sind es immer die jeweiligen Filmemacher, die entscheiden müssen, welche Rückmeldungen sie berücksichtigen.
Pete Docter über die Kollaboration innerhalb der Pixar-Studios
Pete Docter: Wobei es ab und zu auch dazu kommt, dass wir ein Meeting haben, und Brad sagt: „Ich will's Blau!“ Und dann meinen alle anderen: „Ja! Ja! Ja!“ Nur Andrew erwidert: „Ich will's Rosa!“ Plötzlich stimmen ihm alle zu: „Ja! Ja! Ja!“ Und wir kommen dann aus dem Meeting raus, und stellen uns weiter die Frage: „Soll es jetzt Blau oder Rosa sein?“ Es ist nicht immer so, dass der Brain Trust zu einem Konsens kommt. In Wahrheit gibt es nur selten eine generelle Übereinkunft oder eine demokratische Gruppenentscheidung. Am Ende des Tages sind es immer die jeweiligen Filmemacher, die entscheiden müssen, welche Rückmeldungen sie berücksichtigen.

Dank der breiten US-Berichterstattung sind ja bereits zahlreiche Geschichten über die verschiedenen Hürden, die Sie bei der Produktion nehmen mussten, bekannt. Doch nie redet jemand darüber, welche Dinge beim Filmemachen leicht fallen! Daher frage ich, ganz im Sinne von Freude: Was waren denn die fünf einfachsten Entscheidungen, die Sie während des Entstehungsprozesses von «Alles steht Kopf» fällen mussten?
Pete Docter: Lewis Black als Wut zu besetzen, gehörte zu den ersten Einfällen …

Jonas Rivera: Noch früher stand fest, dass Michael Giacchino die Musik komponieren wird!

Pete Docter: Ja, stimmt. Das wussten wir schon, bevor wir überhaupt die Idee zum Film hatten. (lacht) Das war wirklich ein No-Brainer! Und Richard Kind als Bing-Bong lag auch ziemlich nahe. Selbst wenn ich fürchte, dass sein Name dem deutschen Publikum kein Begriff sein wird. Aber er ist einfach wie geschaffen für die Rolle!

Jonas Rivera: Ansonsten gab es, glaube ich, keine einfachen Entscheidungen, aber dafür sehr viele, die einen glücklich gestimmt und Spaß gemacht haben. Ich habe Petes Idee von Anfang an geliebt, und daher war es eine Wonne, zu sehen, wie sie Gestalt annimmt und animiert wird …

Pete Docter: Wenn ich die eigentliche Frage etwas ummünzen darf, würde ich in dem Zusammenhang sagen, dass der Moment, in dem wir Freude zum ersten Mal haben Laufen sehen, zu den fünf glücklichsten Etappen der Produktion zählt!

Jonas Rivera (rechts im kleinen Bild): Definitiv! Nach zwei oder drei Jahren Arbeit kam der Punkt, an dem wir uns die Dailies angucken wollen, und die Animatoren auf uns zugekommen sind: „Schaut nur!“ Und dann spielten sie uns die erste fertige Szene vor, in der Freude geht … Da kam einfach alles zusammen. Unsere Hauptfigur bewegt sich, und sie hat einen individuellen Ausdruck und kann atmen, und ist einfach wunderschön geraten! Als ich diese Bilder gesehen habe, war das einer der glücklichsten Tage in meinem Leben.

Pete Docter: (nickt)

Jonas Rivera: Und dann würde ich noch die Musikaufnahme als einen der fünf glücklichen Momente im Produktionsprozess hinzufügen. Ich kann dieses Gefühl kaum in Worte fassen: Nach jahrelanger harter Arbeit sind wir zur Eastwood Scoring Stage bei Warner Bros gefahren, wo einst die Musik zu «Casablanca» eingespielt wurde. Und dann bittet Michael Giacchino das Orchester, das erste Stück zu spielen … Wir haben geheult wie Babys. Es gibt kaum emotionalere Momente für einen Filmemacher.

Pete Docter: Es fängt ja schon allein damit an, wie die Musiker zum Studio kommen. Man rechnet ja mit Männern im feinen Anzug, aber tatsächlich tragen sie nur schlabberige T-Shirts. Denn im Aufnahmestudio sieht sie ja kaum einer. Und dann sitzen die da herum, vertreiben sich die Wartezeit mit Kreuzworträtsel, bis Michael ihnen die Anweisung gibt: „Wir beginnen!“ Daraufhin holen sie ihre Instrumente heraus und spielen in Perfektion Kompositionen, die sie nie zuvor zu Gesicht bekommen haben, und die obendrein den Film so fantastisch ergänzen … Für uns, die im Animationsfilm im Schneckentempo arbeiten, ist das einfach der Irrsinn, wie diese Musiker rund 20 fertige Minuten pro Tag einspielen können.

Auf der nächsten Seite sprechen Pete Docter und Jonas Rivera darüber, wie Kinder auf ihren Film reagieren. Außerdem lebt Docter sein Muppet-Fansein aus!


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