360 Grad

Der Deutschen Daten-Dystopie

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Im WDR war gestern Überwachungsabend – unter anderem mit einem Bühnenstück über Julian Assange und Edward Snowden. Julian Miller über eine Theater-Enttäuschung.

Deutsche lieben Dystopien. Besonders, wenn sie in Amerika spielen, und man sich als Europäer an seiner moralischen Entrüstung aufgeilen kann.

Insofern hat der WDR gestern bei seinem „Überwachungsabend“ alles richtig gemacht: Neben zahlreichen exemplarischen Spielereien mit dem Studiopublikum, in deren Rahmen ihm und uns vorgeführt wurde, was man mit den Daten der Zuschauer alles so über sie herausfinden kann, wurde – gewissermaßen als Intermezzo – in Auszügen auch das Theaterstück „Supernerds“ von Angela Richter aufgeführt, in dem sie auf Basis zahlreicher Interviews mit den handelnden Personen Whistleblower wie Chelsea Manning, Julian Assange und Edward Snowden auftreten lässt.

Kann man machen. Hört sich sogar interessant und spannend an. Ein innovativer Zugang, mit dem sich aktuelle gesellschaftliche und politische Debatten für ein breites Publikum aufbereiten lassen.

So denkt man, bis man das gesehen hat, was Richter mit „Supernerds“ daraus gemacht hat.

Will sagen: angestaubtes, moralisierendes Theater, das verzweifelt versucht, durch seine zahlreichen Gimmicks modern und relevant zu wirken, aber jenseits einer Dramatisierung der altbekannten, deutsch-dystopischen Zeitungskommentare wenig bis nichts zu sagen hat. Dafür umso mehr Gefuchtel, Pathos und kollektives Entsetzen als einziges zugelassenes Argument.

Und so muss eine Whistleblowerin mit Luftballons im Patschehändchen über die Bühne hoppsen und von Daniel Ellsbergs Haus in Berkeley erzählen. In der Eröffnung stehen Edward Snowden, Julian Assange, Jesselyn Radack und Co. in Reih und Glied und erzählen in pathetisch-überstilisiertem Theaterdeutsch davon, wie sie damals den 11. September erlebt haben. Und um das Ganze vermeintlich psychologisch nahbarer zu machen, muss Chelsea Manning minutenlang von ihrer inneren Zerrissenheit erzählen, bevor sie – wohl als Visualisierung ihrer Geschlechtsumwandlung – wimmernd dem Publikum ihren Rücken entblößt, während im Hintergrund fette Bässe wummen.

Doch Chelsea Manning, Edward Snowden und Julian Assange sind eben nicht unbedingt Helden, sondern in erster Linie kontroverse Figuren: Das konnten Bettina Böttinger und Richard Gutjahr zwar in den (deutlich gelungeneren) journalistischen Teilen der Sendung klar machen. Doch es hätte auch Einzug in das Stück halten müssen, das sich eher als eine Art romantisierende Verklärung seiner Protagonisten gab und sie als Kämpfer gegen eine überbordende Staatsmacht stilisierte.

Und so setzt „Supernerds“ viel zu sehr auf Emotion statt auf Diskurs. Das ist von der Macherin so gewollt, aber eine Fehlentscheidung. Denn das ganze Gehoppse und Geheule, das ganze Deklamieren und Anprangern fühlt sich am Schluss eher wie eine getanzte Jakob-Augstein-Kolumne denn als sinniges dramaturgisches Erlebnis an. Sicher: Theater kann politisch sein – und dabei gerne kontrovers und auch dramaturgisch überzeugend. Man denke an Thomas Bernhards „Heldenplatz“ oder Elfriede Jelineks Stücke, die auf den österreichischen Staat einschlagen wie die Axt im Böhmerwalde. Die lauen „Supernerds“ dagegen, die wirken eher wie eine Selbsthilfegruppe, in der sich das deutsche Publikum spiegeln soll, das seine Dystopien besonders liebt, wenn sie sich erkennbar im Alltag finden lassen.

Eine Rezension des Kollegen Sidney Schering zum WDR-Überwachungsabend lesen Sie hier.

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