Interview

Dschungel-Koluminstin Anja Rützel: ,Ich fürchte, wir werden diese kulturelle Idee mit ins Grab nehmen'

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Mit Quotenmeter.de spricht die Autorin und Journalistin über das Dschungelcamp, Trash TV im Allgemeinen, Luke Mockridge und die Zukunft von TV-Lagerfeuern.

Zur Person: Anja Rützel

Anja Rützel wurde 1973 in Würzburg geboren und hat Rhetorik und Kulturwissenschaft in Tübingen studiert. Für Spiegel Online beobachtet sie seit einigen Jahren die TV-Branche, aktuell begleitet sie das Dschungelcamp mit täglichen Einschätzungen. Rützel veröffentlichte mehrere Bücher, 2017 erschien ihr Werk mit dem Titel "Trash TV". Abseits des Fernsehens habe sie aber "durchaus auch noch andere Interessensgebiete."
Frau Rützel, Sie haben «Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!» in den vergangenen beiden Wochen mit einer täglichen Kolumne bei Spiegel Online begleitet. Die wichtigste Frage zuerst: Hat es Ihnen Spaß gemacht?
Wenn ich sagen würde, dass die letzten 14 Tage ein einziger Tanz auf der Blumenwiese waren, würde mir das nicht einmal Evelyn glauben. Zwischendurch hatte ich schon Spaß, ja. Aber das vorherrschende Gefühl ist bei mir eher eine Art Hassliebe, bei der ich dann im Lauf einer Staffel an mir selbst interessiert die Schwankungen und Ausschläge beobachte.

Viele Dschungel-Fans fanden die aktuelle Staffel stark wie lange nicht mehr. Was hat RTL richtig gemacht? Oder anders gefragt: Was hat in den letzten Jahren nicht so gut funktioniert?
Das Casting hat in diesem Jahr zwei verlässliche Sollbruchstellen eingebaut, die erfolgreich verhindert haben, dass das Camp in bräsiger „La famiglia grande"-Harmonie wegsuppt: Die beiden Ex-Verliebten Evelyn und Domencio und die Streitgockel Yotta und Currywurstmann. Das ist natürlich ein etwas plumper Eingriff in die Soziallabor-Atmosphäre des Dschungelcamps, weil man gewisse dramaturgische Entwicklungen damit fast erzwingt - aber eben auch ein sehr wirksamer. Außerdem trug natürlich auch ganz prosaisch die neu eingeführte Siegerprämie von 100000 Euro dazu bei, dass die meisten Kandidaten dieses Mal etwas mehr von sich zeigen wollen als die Zeitabsitzer im letzten Jahr.

Parallel zu den TV-Sendungen sind Sie auch fleißig bei Twitter unterwegs, wo ja nicht selten kreative Tweets zu den entsprechenden Formaten in die Welt gezwitschert werden. Inspiriert Sie das für Ihre Texte?
Twitter ist für mich zur Dschungelzeit eher ein interessantes Meinungsforschungstool: Ich beobachte damit gerne, wie beliebt einzelne Figuren sind, mit welchen ungeschickten Aktionen sie ab welchem Punkt in Ungnade fallen, wann die kollektive Stimmung in Richtung eines gemeinsamen Favoriten kippt, das finde ich interessant.

Unübliche Arbeitszeiten sind auch wir bei Quotenmeter gewohnt - 17 tagesaktuelle Artikel über das Dschungelcamp hat bei uns aber noch niemand verfasst. Schreiben Sie Ihre Texte nachts nach der Sendung oder stellen sich morgens früh den Wecker?
Dieses Jahr waren es dann doch auch nur 15 Texte - ich hatte zwei Abende frei, weil ich da mit meinem aktuellen Buch auf Winz-Lesetour war, darum ist da dankenswerterweise der Kollege Arno Frank eingesprungen. Leider kann ich die Texte auch nicht mehr, wie in früheren Staffeln, direkt nach der Sendung schreiben, weil ich dafür schlicht zu müde bin. Ich schlafe dann also dreieinhalb Stunden, stehe um vier wieder auf und schreibe, um sechs Uhr müssen die Texte fertig sein. Dann schlafe ich zwei Stunden weiter, bis mich der Hund weckt, und dann geht der Arbeitstag ganz normal weiter. Ich war darum in den letzten zwei Wochen meistens wirklich sehr müde.

Wie sind Sie überhaupt TV-Kritikerin geworden? Gearbeitet haben Sie ja mal bei der Financial Times...
Leider kann ich die Texte auch nicht mehr, wie in früheren Staffeln, direkt nach der Sendung schreiben, weil ich dafür schlicht zu müde bin. Ich schlafe dann also dreieinhalb Stunden, stehe um vier wieder auf und schreibe, um sechs Uhr müssen die Texte fertig sein. Dann schlafe ich zwei Stunden weiter, bis mich der Hund weckt, und dann geht der Arbeitstag ganz normal weiter. Ich war darum in den letzten zwei Wochen meistens wirklich sehr müde.
Anja Rützel über ihre Texte zum Dschungelcamp
Ich bin ja zum Glück multiinteressiert - vor meiner Zeit bei der FTD habe ich auch für den Rolling Stone über Musik geschrieben, und in meinen Bewerbungsunterlagen für die Financial Times lag damals auch ein Artikel über die kulturelle Bedeutung der neuen Doodle-Hundekreuzungen, keine Ahnung, warum ich das für eine gute Idee hielt. Als die FTD eingestellt wurde, beschloss ich, frei zu arbeiten, und bewarb mich als freie Mitarbeiterin bei Spiegel Online. Eigentlich sollte ich da aber vor allem wieder über Musik schreiben. Einer meiner ersten Aufträge war aber eine Kritik zum Eurovision Song Contest, und von da schlidderte ich irgendwie ins Trash-Genre. Geplant hatte ich das nicht, obwohl ich vor allem während des Studiums mit großer Leidenschaft sehr viel Zeit mit TrashTV verplemperte.

Sie verdienen Ihr Geld mit Trash TV, haben vor zwei Jahren sogar ein gleichnamiges Buch geschrieben. Welche Stimmen gibt es in Ihren persönlichen Umfeld zu Ihrem „journalistischen Schwerpunkt"?
Man macht sich keine allzu großen Sorgen, da ich ja durchaus auch noch andere Interessensgebiete habe - ich habe außerdem auch ein Buch über Tiere und ein Plädoyer fürs Alleinsein geschrieben, und manchmal gehe ich gar ins Theater. In meinem Privatleben spielt TrashTV gar keine so große Rolle. Der Müllmann nimmt sich den Abfall ja auch nicht mit nach Hause.

Sie schreiben das ganze Jahr hinweg über TV-Sendungen und nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Welches TV-Format ist Ihnen in den letzten Monaten besonders negativ in Erinnerung geblieben und wieso?
In meinem Privatleben spielt TrashTV gar keine so große Rolle. Der Müllmann nimmt sich den Abfall ja auch nicht mit nach Hause.
Anja Rützel
Ich ärgere mich wirklich sehr darüber, dass es immer noch Formate wie «Schwiegertochter gesucht» gibt, in denen – im Gegensatz zum Dschungelcamp, «Sommerhaus der Stars» und ähnlichen Sendungen – nicht professionelles Trash-Personal performt, denen man schon unterstellen kann, dass sie (oder ihre Manager) die Regeln des Showbiz überblicken können – sondern eben Menschen, die gar nicht erfassen können, welche negativen Konsequenzen ein solcher Auftritt für sie haben kann. Oder keine Vorstellung davon, wie ungut ihre von der Produktion geformte TV-Persona ausfallen könnte. Dass Jan Böhmermanns „Vera-Gate" da keine wirklichen Konsequenzen hat, finde ich schlimm.

Weniger gefragt als zuletzt scheint «Der Bachelor» zu sein, auch Sie schrieben verhalten über den Auftakt. Hat RTL das «Bachelor»-Universum mit all seinen Ablegern zu weit ausgedehnt?
Ich mag die «Bachelor»-Formate immer noch, aber sie stehen und fallen eben mit dem Casting, und das finde ich dieses Mal nicht sehr überzeugend. Den Ableger «Bachelor in Paradise», bei der nach dem Grabbelkistenprinzip nochmal ordentlich in den Resten geramscht wurde, fand ich dagegen sehr interessant. Wie sich der Ur-Bachelor da plötzlich als großer Humanist hervortun konnte, war sensationell.

Ich schaue auch tatsächlich gern «Die beste Show der Welt», weil mir dieser Showcase-Charakter gut gefällt - aber das ist natürlich auch eine gewaltige Ideen-Materialschlacht, die ganz deutlich zeigt, was das Problem des Showsamstags ist: Kaum eine dieser Ideen würde tatsächlich über einen ganzen Abend hinweg tragen. Eine seltene Ausnahme war für mich Böhmermanns „Lass dich überwachen", das könnte ich mir gut auch als wiederkehrendes Samstagshowformat vorstellen.
Anja Rützel über das Konzept der Samstagabendshow
Welches Format schauen Sie lieber: «Bachelor» oder «Bachelorette»?
«Bachelorette». Balzende Männer finde ich mit ihren Rudelmarotten amüsanter als balzende Frauen.

«Naked Attraction» oder «Adam sucht Eva»?
Finde ich beides von Herzen unappetitlich.

«Bauer sucht Frau» oder «Schwiegertochter gesucht»?
Macht mir beides Bauchschmerzen.

Reden wir über erfreulichere Dinge. Luke Mockridge gilt bei vielen als Hoffnungsträger, seine Sendungen kommen sowohl bei Kritikern als auch bei Zuschauern gut an. Wie sehen Sie seine Aktivitäten bei Sat.1?
Ich war bei seinen Sendungen schon öfter überrascht, wieviel Spaß ich dabei hatte – obwohl ich kein Fan und sicher nicht die Zielgruppe für zum Beispiel diese „Wer kennt noch das Lied von den Glücksbärchis"-Neunziger-Retro-Feierei bin, sehe ich bei ihm immer wieder wirklich gut gemachte Showelemente und bilde mir ein, bei ihm selbst eine in gewissem Grad auch mitreißende Leidenschaft für das Fernsehen zu sehen, die es nicht mehr so oft gibt. Vielleicht ist das aber auch zu kitschig gedacht.

Wenig Glück mit Shows hatte zuletzt ProSieben, das vor allem am Samstagabend ziemlich planlos dasteht. Fehlen dem Sender die guten Ideen? Oder ist das Konzept „Samstagabendshow" einfach nicht mehr zeitgemäß?
Ich mag das Konzept immer noch, und ich glaube auch, dass es als singuläres, wegen der veränderten Sehgewohnheiten immer ungewohnteres und darum „besonderes" Format auch heute noch seine Berechtigung hat. Ich schaue auch tatsächlich gern «Die beste Show der Welt», weil mir dieser Showcase-Charakter gut gefällt - aber das ist natürlich auch eine gewaltige Ideen-Materialschlacht, die ganz deutlich zeigt, was das Problem des Showsamstags ist: Kaum eine dieser Ideen würde tatsächlich über einen ganzen Abend hinweg tragen. Eine seltene Ausnahme war für mich Böhmermanns «Lass dich überwachen», das könnte ich mir gut auch als wiederkehrendes Samstagshowformat vorstellen.

Wie sehen Sie die Zukunft des Fernsehens? Werden wir in 15 oder 20 Jahren noch TV-Lagerfeuer wie das Dschungelcamp haben?
Vielleicht - aber nicht mehr viel länger. Ich fürchte, diese Tradition wird sich bei den jüngeren Zuschauern schnell verwachsen, und wir, die tatsächlich gemeinschaftsstiftendes Fernsehen noch aus der vielzitierten Frotteeschlafanzug-Badetag-Kindheit kannten, werden diese kulturelle Idee mit ins Grab nehmen.

Frau Rützel, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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