Steffis Tochter ist vor acht Jahren verschwunden. Seither kümmert sie sich um ihre Enkeltochter Nele. Sie ist, vorsichtig gesagt, übervorsichtig. Ständig begleitet sie die Angst, auch Nele könnte eines Tages einfach nicht mehr da sein. Als Nele in einer TV-Serie die Schauspielerin Ani entdeckt, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten scheint, trifft das Kind eine folgenschwere Entscheidung: Heimlich macht sich Nele auf den Weg nach Hamburg.
«Per Anhalter zur Ostsee»
Regie: Süheyla Schwenk; Drehbuch: Kathi Liers; Kamera: Patrick Orth; Licht: Christoph Dehmel; Szenenbild: Pouya Mirzaei; Kostümbild: Katja E. Waffenschmied; Maske: Kristina Mollnau, Edith Paskvalic, Lale Yilmaz; Casting: Mai Seck, Patrick Dreikauss; Musik: Ali N. Askin; Ton: Tim Stephan; Schnitt: Claudia Trost; Herstellungsleitung: Jeffrey Budd, Kirsten Frehse (ARD Degeto); Produktionsleitung: Rico Krahnert; Producerin: Annette Köster; Produzentin: Iris Kiefer; Redaktion: Katja Kirchen (ARD Degeto), Stefan Kruppa (ARD Degeto). Besetzung: Anja Kling (Steffi), Franziska Wulf (Ani), Maïmouna Mbacké (Nele), Sahin Eryilmaz (Ibo), Bernhard Conrad (Lucas), Rike Eckermann (Gisela), Lukas Zumbrock (Sebastian), Vu Dinh (Herr Hoang), Lea Willkowsky (Resa), Julia Liebetrau (Simone), Jonas Hien (Wegmüller), Jonas Minthe (Fred), Rona Özkan (Frau Yilmaz), Jon Flemming Olsen (Achim)«Per Anhalter zur Ostsee» ist ein Film der leisen Töne, dessen Nähe zum Drama spürbar bleibt, der aber dennoch einen hoffnungsvollen Grundton wählt. Ja, Steffi ist zweifellos eine Frau, deren Sorge manchmal zu viel wird, deren Liebe zur Last werden kann. Doch sie ist noch jung, sie trägt einen Verlust mit sich, der schwer auf ihr lastet; also klammert sie sich an das, was ihr geblieben ist. Nele weiß das. Sie spürt, dass sie geliebt wird, vielleicht zu sehr. Und genau deshalb macht sie sich auf den Weg von Köln nach Hamburg: Mit Neugier, Entschlossenheit und einer Portion Mut, die größer ist, als sie selbst ahnt. Und tatsächlich gelangt sie mit einer ordentlichen Portion Chuzpe bis in Anis Haus.
Steffi hingegen gerät auf ihrem Weg nach Hamburg unterwegs aus der Bahn. Und das nicht im sinnbildlichen Sinne. Ihr Gepäck wird im Zug gestohlen, sie strandet an einem Provinzbahnhof. In ihrer Not spricht sie an einer nahegelegenen Autobahnraststätte einen Fahrer an – Ibo. Der Zufall will es, dass er tatsächlich auf dem Weg nach Norden ist. Und er hilft. Doch weil er LKW-Fahrer ist, muss er sich an Vorschriften halten → wie die elf Stunden gesetzlich verordnete Pause nach einer langen Fahrt. So strandet Steffi auf ihrem Weg ein zweites Mal im Nirgendwo, diesmal auf einem Autobahnparkplatz. Aber jetzt ist da Ibo, der zuhört. Ibo ist einer, der nicht viel sagt, aber viel versteht. Man merkt es an seiner Geduld, an seinem Blick.
Regisseurin Süheyla Schwenk, 2022 für ihre Arbeit an der ZDF/KiKA-Serie «Echt» in der Kategorie „Kinder & Jugend“ für den renommierten Grimme-Preis nominiert, bringt auch in «Per Anhalter zur Ostsee» ihr Gespür für Zwischentöne ein. Für das Unausgesprochene zwischen den Figuren, für das Komische im Tragischen und das Tröstliche im Schmerz. Dass die Geschichte nicht in Melodramatik abrutscht, sondern eine Leichtigkeit bewahrt, die nie aufgesetzt wirkt, ist ihr Verdienst. Denn obwohl der Verlust der Tochter wie ein dunkler Schatten über allem liegt, bleibt der Blick nach vorn gerichtet. Steffi hat Verantwortung und Verantwortung heißt auch, Vertrauen zu schenken. Neles abwegige Hoffnung, die Schauspielerin könne ihre Mutter sein, ist nicht nur ein Ausdruck kindlicher Fantasie, sondern auch ein stiller Protest gegen die Umklammerung. Wer liebt, wie Steffi, muss manchmal loslassen können.
Das Drehbuch von Kathi Liers spinnt aus all dem kein großes Drama, sondern ein feines Gewebe aus Nähe, Verlust, Hoffnung und Begegnung. Es erzählt von einer Frau, die lernen muss, nicht nur festzuhalten, sondern auch Raum zu geben. Und die Ibo trifft, der für seine Freundlichkeit keinerlei Gegenleistungen verlangt und dem sie wohl nie begegnet wäre, hätte das Leben nicht einen Umweg gewählt. Doch dies ist nicht nur Steffis Geschichte. Es ist auch die Geschichte von Nele, deren Sehnsucht größer ist als ihre Jahre und die, ohne es zu ahnen, eine Kettenreaktion auslöst. Denn Ani, jene Schauspielerin mit dem Gesicht der Verschollenen, ist weit weniger gefestigt, als sie vor Kamera und Klatschpresse vorgibt. Der Glamour bröckelt bei näherem Hinsehen. Darunter liegt eine Frau, die gerade selbst nicht weiß, wohin mit sich. Ani steckt in einer Krise, familiär, beruflich, emotional: Und genau in diesem Moment steht ein Kind vor ihrer Tür und behauptet, sie sei ihre Mutter.

In der Serie, in der Ani eine Polizistin spielt, wird sie von Lucas beraten, einem echten Beamten, korrekt, nüchtern, beinahe peinlich pflichtbewusst. Dass er sie regelmäßig nach Drehschluss nach Hause bringt, was gar nicht seine Aufgabe wäre, scheint ihr kaum aufzufallen. Oder sie tut nur so. Vielleicht spürt sie längst, dass sich da jemand um sie bemüht, leise, unaufdringlich, beinahe unsichtbar. Das Auftauchen von Nele ist der Moment, in dem sie quasi gezwungen wird, sich selbst zu hinterfragen. Das Kind, das sie für eine andere hält, zeigt ihr, dass es da noch eine andere Version von ihr geben könnte. Eine wahrhaftigere.
«Per Anhalter zur Ostsee» ist kein Film der großen Wendungen, aber einer der leisen Erkenntnisse. Er führt Menschen zusammen, die sich sonst verpasst hätten, und erzählt davon mit einem Ton, der zärtlich, unaufgeregt und dabei erstaunlich klar ist. Man könnte sagen: Es ist ein Film über das, was geschieht, wenn das Leben kurz anhält und einen zwingt, den Navi neu einzustellen.
Am Freitag, 22. August 2025, 20.15 Uhr im Ersten.