Seit beinahe 35 Jahren gehörte der Sonntagssendeplatz um kurz vor 19 Uhr der «Lindenstraße». Ab dem ersten Aprilwochenende 2020 wird dies anders sein. Grund genug, um sich einmal ausführlich mit dem Kultformat zu beschäftigen.
Auch Deutschland insgesamt – und nicht nur die Sehgewohnheiten der Zuschauerinnen und Zuschauer – hat sich natürlich in den vergangen fast 35 Jahren sehr verändert. Die «Lindenstraße» wiederum ist gewissermaßen gleichzeitig mit der Zeit gegangen und doch die „Alte“ geblieben, was sie noch unkonventioneller als ohnehin schon erscheinen lässt. Zahlreiche leidenschaftliche Anhänger verweisen auf genau diesen Fakt, wenn sie erklären wollen, warum sie ihrem fiktionalen „Liebling“ so lange die Treue gehalten haben, während andere exakt darin die eigentliche Ursache für den «Listra»-Niedergang sehen. Will man verstehen, weshalb diese vermeintlich so gegensätzlichen Sichtweisen so verbreitet sind, bedarf es an sich noch nicht einmal eines Blickes in die Vergangenheit. Wer sich intensiver mit den Inhalten auseinandersetzt, die in den letzten Wochen und Monaten das Geschehen in der wohl populärste TV-Straße der Bundesrepublik bestimmt haben, wird schnell erkennen, dass sich für beide Positionen Argumente finden lassen – am Ende kommt es maßgeblich darauf an, wie man diese ganz persönlich gewichtet.
Dass in der Regel die Woche, die – im Normalfall – zwischen zwei regulären Ausstrahlungsterminen liegt, ebenfalls in den Drehbüchern Berücksichtigung findet, verankert das Dargebotene selbstverständlich noch einmal anders im Hier und Jetzt, als es bei Produktionen der Fall ist, bei denen das Publikum nie so recht weiß, welches der präsentierten Ereignisse wann genau stattgefunden hat. Dieser Effekt wird nochmal durch eines der absoluten Alleinstellungsmerkmale der «Lindenstraße» verstärkt: das Einbauen von aktuellen Nachrichten, die sich oftmals erst unmittelbar vor dem entsprechenden Sonntag ereignet haben. Diese sind häufig politischer Natur und passen damit wiederum zu der Tatsache, dass die wöchentliche Serie zeitlebens politisch war, was ihr die einen hoch anrechneten und die anderen oftmals kritisierten.
Und damit wären wir auch endlich beim Herzstück der Kultsendung angekommen: den Figuren und ihren Geschichten. Gut, ohne Protagonistinnen und Protagonisten käme auch keine andere fiktionale Produktion aus, also nichts Außergewöhnliches – möchte man meinen. De facto ist die «Lindenstraße» in dieser Hinsicht ein absoluter Sonderfall – allein ein Blick auf die Verweildauer zahlreicher Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller belegt dies: Marie-Luise Marjan (Helga Beimer), Moritz A. Sachs (Klaus Klausi Beimer), Andrea Spatzek (Gabriele Gabi Zenker), Sybille Waury (Tanja Schildknecht), Hermes Hodolides (Vasily Sarikakis), Georg Uecker (Dr. Carsten Flöter) und Amorn Surangkanjanajai (Gung Pham Kien) lernten die Fans beispielsweise bereits innerhalb der ersten 10 Folgen kennen – ebenso wie den vor zwei Jahren freiwillig ausgestiegenen Joachim H. Luger (Hans Beimer) und den allein aus dramaturgischen Gründen nicht bis zum Schluss (aber immerhin noch bis Episode 1744) zum Hauptcast gehörenden Ludwig Haas (Dr. Ludwig Dressler). Irene Fischer (Anna Ziegler) ist seit 1987 mit von der Partie, Jo Bolling (Andreas Andy Zenker) sowie Rebecca Siemoneit-Barum (Iphigenie Iffi Zenker) seit 1990 und Sontje Peplow (Lisa Dagdelen, geborene Hoffmeister) seit 1991.
Gleichzeitig kann nur so eine derart starke Beziehung zwischen TV-Favoritinnen und -Favoriten und Zuschauerschaft entstehen, wie es bei der «Lindenstraße» von Anfang an der Fall war. Wenn man selbst mit einigen der Charaktere mitwächst respektive sie aufwachsen sieht und nur in Ausnahmefällen „gerecastet“ wird, misst man ihnen auch logischerweise eine andere Bedeutung bei, als wenn der stetige Wechsel Normalität ist. Für sehr lange Zeit war das Format ein ähnlicher Pflichttermin in zahlreichen Familien wie vielleicht heute gerade einmal noch der «Tatort» oder die «Sportschau», der einfach dazugehörte – unter anderem aufgrund dieser speziellen Bindung zu den in Haus Nummer 3 Lebenden. Und gerade deswegen ist es umso bemerkenswerter, dass „Mister «Lindenstraße» himself“ Hans W. Geißendörfer, seine Tochter Hana, die 2015 das Zepter übernahm, sowie sämtliche Autorinnen und Autoren im Prinzip seit jeher nahezu keiner Figur so wirklich zugestanden haben, ausschließlich auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Heißt: Selbst absolute Sympathieträger waren nicht davor gefeit, durch ein oder zwei falsche Entscheidungen plötzlich massiv in der Gunst der Anhänger und ihrer (fiktiven) Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zu sinken. Und selbst wenn diese „Täler“ überwunden schienen, wurde nie (wie bei manch anderen Serien) von diesem Augenblick an der Mantel des Schweigens über Vorfall X gehült, sondern anlassbezogen auch durchaus wieder der Finger in die Wunde gelegt, was letztlich der Glaubwürdigkeit des Erzählten zugutekam.
Wie Jack Ludwig, nachdem sie ihn erst noch von seinem Plan abbringen wollte, schließlich doch auf seinem letzten Weg begleitet und ihm dabei hilft, sein Leben, an dem er trotz seines hohen Alters bis zuletzt hängt, so beenden zu können, dass er der unheilbaren Krankheit, die man bei ihm, dem Arzt, dem Fachmann, kurz zuvor diagnostiziert hat, zuvorkommen kann, dürfte niemanden kaltgelassen haben. Gerade auch, weil er, der ewige Strippenzieher, es bis zuletzt nicht lassen konnte und auch nach seinem Tod seine Liebsten noch vor besondere Herausforderungen stellen musste, die letztendlich aber dennoch beweisen, dass Dr. Ludwig Dressler etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Überhaupt steht dieser Plot sinnbildlich für ein in vielerlei Hinsicht beispielhaftes Zusammenführen von Handlungssträngen. Die Verantwortlichen haben offenkundig keine Zeit verschwendet, nachdem endgültig feststand, dass sie auf ein nicht mehr abzuwendendes Ende zusteuern, weswegen sich ein Großteil der Geschichten aus 2019 und 2020 auch wie eine große Verabschiedung anfühlt.
In der finalen Folge „Auf Wiedersehen“, deren Titel sicherlich auch in Anlehnung an die erste, die mit „Herzlich willkommen“ überschrieben war, entstanden ist, stehen nun noch einmal die beiden ewigen Rivalinnen Helga und Anna im Mittelpunkt – wie aus der sehr sehenswerten Dokumentation „Bye Bye Lindenstraße“ hervorgeht, haben Marie-Luise Marjan und Irene Fischer auch das allerletzte Bild der Formathistorie gemeinsam aufgenommen, das übrigens – so viel sei verraten – nicht das letzte ist, das die Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehen bekommen. Neben diesen finalen Szenen zwischen den beiden Frauen von Hans Beimer, dem in gewisser Weise symbolischen Einzug neuer Nachbarn und einem schlüssig in das Drehbuch eingebauten „Schaulaufen“ des restlichen Ensembles bekommt in dieser Episode interessanterweise noch die vielleicht einzige echte Intrigantin, die je über längere Zeit ihr Unwesen in der «Lindenstraße» treiben durfte und die seit 2007 wunderbar von Daniela Bette gespielt wird, verhältnismäßig viel Screentime eingeräumt: Angelina Dressler, die vor ihrer Adoption durch Ludwig noch Buchstab hieß.
Wie anfangs bereits angedeutet: Es ist nachvollziehbar, warum die «Lindenstraße» mindestens so viele Kritiker wie Befürworter hat, dennoch macht (auch bei der Besprechung von TV-Produktionen) der Ton die Musik. Selbst wenn man also das Format schon lange für überholt hält und sich seit einer gefühlten Ewigkeit fragt, weshalb es nicht längst abgesetzt worden ist, sollte man dennoch anerkennen können, dass Familie Geißendörfer und ihr Team etwas geschaffen haben, das TV-Geschichte geschrieben hat, und die Leistung aller Beteiligten daher Respekt verdient, was selbstredend nicht bedeutet, sich nicht auch kritisch zu der Serie, die auf die nach wie vor laufende britische Soap «Coronation Street» (seit 1960 on air) zurückgeht, äußern zu dürfen – denn genau das wiederum, die Kontroverse, ist immerhin wesentlicher Bestandteil ihrer eigenen DNA.