Glenns Gedanken

Sozialpornos für die intellektuelle Elite (Teil 2)

von
Im zweiten Teil rechnet unser Kolumnist mit Scripted Realitys ab.

Eine der verheerendsten Tatsachen in Bezug auf Doku-Soaps ist die Vorspiegelung falscher Normalitäten. In Sendungen wie «U20 - Deutschland, deine Teenies» oder «Die Mädchen-Gang» werden gerne im übertriebenen Ausmaß Extremfälle von gewalttätigen, antisozialen und kriminellen Jugendlichen präsentiert. Gescheiterte Existenzen aus zerrütteten Familienhäusern in sozialen Brennpunkten spielen in diesen Formaten die Hauptrolle. Dadurch, dass diese Beispiele in geballter Form auf der Mattscheibe gezeigt werden, entsteht bei vielen Zuschauern ein Zerrbild der Realität. Indirekt vermittelt das Fernsehen nämlich den Eindruck, dass diese Ausnahmeerscheinungen den Regelfall darstellen. Beim Zuschauer bleibt hängen: "Ach du meine Güte. So schlimm steht es also um unsere Jugend. Da wird ja nur noch gekifft, geprügelt und gehurt. Gute Nacht, Abendland." Man darf auf keinen Fall diesen Trugschluss ziehen, denn solche Extremfälle in sozial benachteiligten Schichten gab es auch schon vor Jahren und Jahrzehnten. Der Unterschied war nur: Früher wurde diesen Menschen keine Plattform im Fernsehen geboten.

Weil es eben nicht genügend solcher skandalträchtigen Ausnahmefälle gibt, die Sender aber auf Grund hoher Einschaltquoten ihr Programm gerne flächendeckend mit diesen Inhalten füllen wollen, wurden die sogenannten Scripted Realitys auf den Plan gerufen. Darunter versteht man nichts anderes als eine vorgegaukelte Doku-Soap. Untalentierte Laiendarsteller spielen in erfundenen Beziehungsdramen faule Sozialschmarotzer, überforderte Hausfrauen, prügelnde Ehemänner, schwangere Minderjährige und aggressive Jugendliche. Die Scripted Reality hat einleuchtende Vorteile: Man muss nicht müßig nach echten Fällen suchen, außerdem ist sie ausgesprochen kostengünstig zu produzieren. Und so pflastern RTL und Sat.1 ihren Nachmittag munter mit Formaten mit so ansprechenden Namen wie «Familien im Brennpunkt», «Schicksale» und «Mitten im Leben» zu. Dadurch bekommen Sender und Zuschauer täglich den ultimativen Wahnsinn in deutschen Familien frei Haus geliefert: Man geht sich an die Gurgel, weint sich die Seele aus dem Leib und brüllt sich gegenseitig die Meinung ins Gesicht, dass es kracht. Die Themen sind stets schrill, die Darstellung simpel und das Geschehen wiederholt sich in einer Endlosschleife. Die Handlung ist durch ständige Einblendungen und einen Off-Sprecher auch dann problemlos zu verstehen, wenn man den Fernseher nur beiläufig laufen lässt.

Ein weiteres Problem im Hinblick auf Scripted Realitys ist, dass es immer schwieriger wird, zwischen Wahrheit und Schein zu unterscheiden. Die Pseudo-Dokus stehen in ihrer Machart den authentischen Doku-Soaps in nichts nach. Doch die Scripted Reality ist das Gegenteil zur echten Realität, und die Sender betreiben mit diesen Formaten ein regelrechtes Realitätsdoping. Der Zuschauer wird lediglich am Ende(!) jeder Sendung im Abspann über den Schwindel informiert. In winzigen Lettern steht dort für ein paar Sekunden "Alle handelnden Personen sind frei erfunden." Laut RTL-Unterhaltungschef Tom Sänger ist das für das Publikum allerdings unwichtig: "Nach unseren Erkenntnissen interessiert den Zuschauer nicht, ob es sich um Real-Dokusoaps oder um gescriptete mit Laiendarstellern handelt. Sie wollen interessante Geschichten sehen, die Machart ist nicht entscheidend." Anders gesagt: Der Zuschauer wird betrogen, und hat angeblich auch nichts dagegen.

Der vordergründige Beweggrund für gebildete Zuschauer, solche Sendungen zu konsumieren, ist auch bei den Scripted Realitys, dass sie sich vorzüglich über das "Proletenpack der Unterschicht" amüsieren können. Oft bekommt man das Argument sogenannter Intellektueller zu hören, dass sie nach einer anstrengenden und geistig fordernden Arbeit zum Ausgleich etwas Seichtes und Anspruchsloses im Fernsehen brauchen, um "mal abschalten zu können". Doch gäbe es dafür nicht auch bessere Alternativen? Müssen es unbedingt Doku-Soaps und Scripted Realitys sein, die zusammen mit Call-In-TV und Astro-TV den Bodensatz der Fernsehunterhaltung bilden? Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser Trend baldmöglichst vorübergeht und sich die Zuschauer nach dieser Epoche der totalen Verblödung wieder nach mehr Anspruch und Niveau sehnen. Doch die Aussichten sind düster, sehr düster.

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