Buchclub ‚Die unbequeme Vergangenheit‘

von

Der Suhrkamp Verlag hat das Sachbuch von Nikolai Epplée über eine russische Gewaltepoche veröffentlicht.

Wie kann man mit einer Geschichte umgehen, die durch Perioden intensiven Schreckens gekennzeichnet war? Ist es möglich, die Vergangenheit aufzuarbeiten, wenn der Geheimdienst die einzige Institution ist, die den Fall der Sowjetunion überlebt hat? In seinem packenden Buch skizziert Nikolai Epplée die Methoden der Unterdrückung, die während der Sowjetherrschaft von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod angewendet wurden, und die darauffolgenden Bemühungen, die Opfer wiederherzustellen.

Geschichtsaufarbeitung auf sowjetische Art und Weise
Im Frühjahr 1979 führte das Hochwasser des sibirischen Flusses, dass Teile des Ufers erodierten und ein Massengrab freigelegt wurde. Die Überreste der Toten trieben im Fluss. Die staatlichen Behörden entsandten Schleppboote, deren mächtige Schiffsschrauben künstliche Strömungen erzeugten, um die restlichen Körper ins Wasser zu befördern und dort zu zerkleinern. Die an Land gespülten Leichen wurden stillschweigend begraben. An diesem Ort waren 4.000 Menschen während der Ära Stalins erschossen worden.

Die Personen, die für diese grausame Tat verantwortlich waren, verstanden nicht die bizarre Sinnlosigkeit ihres Handelns. Sie waren der Meinung, dass die Vernichtung physischer Beweise ausreichen würde, um sich von der Vergangenheit zu befreien, als ob die kollektive Erinnerung nicht existieren würde. Das Verschleiern der Geschichte ist nicht nur die grausamste, sondern auch die ignoranteste Form ihrer Verarbeitung, und es ist bis heute in vielen Ländern der Welt zu finden. Russland steht aufgrund der unglaublichen Größenordnung und der gesellschaftlichen Bedeutung des bolschewistischen Terrors, der anhaltenden Auswirkungen und der Verbindungen des Putin-Regimes mit der Stalin-Zeit als besonders anschauliches Beispiel da. Wie könnte ein Weg aus dieser geschichtlichen und erinnerungspolitischen Sackgasse gefunden werden?

Skizze eines langen und komplizierten Weges
Der russische Journalist Nikolai Epplée skizziert einen langen und komplizierten Weg, um die unaufgearbeitete Vergangenheit der letzten hundert Jahre in Russland in eine Quelle für Gemeinschaft und sogar Versöhnung zu verwandeln. Epplée zufolge erfordert dies nicht nur einen Fokus auf Russland selbst, sondern auch die Betrachtung der Art und Weise, wie andere Kontinente mit der gewaltsamen Geschichte des 20. Jahrhunderts umgegangen sind. Sein Buch steht als seltenes Beispiel dafür, wie ein Blick über die nationalen Grenzen hinaus zur Lösung von Problemen in Russland beitragen kann.

Zudem werden die Geschichte und Erinnerungspolitik des Putin-Regimes, angetrieben von nationalistischen, imperialistischen und kulturellen Beweggründen, als Hindernis dargestellt. Diese Politik ist nicht nur eine Folge der aktuellen Regierung, sondern reflektiert die Einstellung zur blutigen Vergangenheit der Sowjetunion während der letzten Jahrzehnte. Hierbei stellt "das Entsorgen" von politischen Gegnern nur eine Möglichkeit dar, während die vom Staat verordnete Helden- und Triumph-Geschichte, die sich am Sieg im Zweiten Weltkrieg orientiert, eine andere darstellt.

In der deutschen Ausgabe seines Buches bringt Epplée klare Worte auf den Punkt: Der Angriff auf die Ukraine habe das über Jahrzehnte gepflegte zentrale Geschichtsbild Russlands als Bezwinger des Faschismus zerstört und Russland zu einem Täterstaat gemacht.