Serientäter«Black Mirror»: Tolle Bilder auf dem Rücken der Perversion

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Charlie Brooker hat fünf neue «Black Mirror»-Geschichten verfasst, die eindrucksvoll zahlreiche Meta-Ebenen aufbauen. Quotenmeter hat sich die zweite Folge „Loch Henry“ angeschaut.

„Wie wär’s mit «Loch Henry», dies schottische Mörder-Doku?“, fragt Joan (Annie Murphy) in der ersten Folge der sechsten «Black Mirror»-Staffel, die nach vier Jahren Wartezeit starbesetzter kaum daherkommen könnte. „Noch eine True-Crime-Serie halte ich nicht aus“, erwidert Avi Nash alias Joans Verlobter Krish. Und da ist das Publikum bereits in der Meta-Ebene angekommen – ohne es zu wissen. Denn nicht nur steht auch «Sea of Tranquility» zur Auswahl, die in Folge vier wieder aufgegriffen wird und zumindest vom Vorschaubild und Titel auch an Folge zwei erinnert, «Loch Henry» ist Episode zwei und erzählt tatsächlich eine True-Crime-Story aus Schottland.

Darin kehrt Filmstudent Davis McCardle, gespielt von Samuel Blenkin, mit seiner Partnerin Pia (Myha'la Herrold, «Industry») in seinen Heimatort Loch Henry zurück. Dort treffen sie auf die konventionelle Mutter (Monica Dolan, «Appropriate Adult»), die in dem kleinen, verarmten Örtchen wohnt, wollen aber schnell weiter, um eine Dokumentation über einen Eiersammler aus Rúm zu drehen – „eine Geschichte über einen der letzten verbliebenen Wiederstände gegen die Kommerzialisierung der Natur“, wie Davis enthusiastisch und voller Hingabe präsentiert. Wenige Szenen später steht das junge Paar in der bildgewaltigen Natur Schottlands und die PoC-Amerikanerin fragt sich, warum der vom Telefon- und Wifi-Netz befreite Ort angesichts der überwältigenden Natur nicht von Touristen überrannt wird. Die für «Black Mirror» typische Ironie ist nach wenigen Minuten greifbar.

Der Grund ist simpel wie grausam: Vor einiger Zeit lebte der Mörder Iain Adair in Loch Henry, der ein junges Ehepaar in den Flitterwochen kidnappte und sie brutal ermordete. Die Leichen waren nie gefunden. Die Geschichte flog auf, weil Adair seine Eltern und sich selbst erschoss, was Davis‘ Vater Kenneth bei einem Streifeneinsatz bezeugte, bei dem er in die Schulter geschossen wurde. Dieser verstarb wenig später an MRSA. Für Pia ist diese Geschichte der Anlass die Doku über den Eiersammler zu verwerfen und lieber jene Familientragödie zu erzählen – gefördert noch durch Davis‘ Freund aus Kindheitstagen Stuart (Daniel Portman, «Game of Thrones»), der gemeinsam mit Stuart die Geschichte in seinem verlassenen Familien-Pub erzählt. Stuarts Vater, ein unbarmherziger Alkoholiker, hat Einwände gegen die neue Produktion, rückt aber nicht mit der Sprache raus, sondern tut dies erst als alles zu spät war und die Familientragödie um ein Kapitel länger wurde. Spätestens beim Treffen mit einer renommierten Produktionsfirma für Dokumentation, bei der die Produzentin Kate Cezar (Ellie White, «The Windsors») nach einer tiefergehenden persönlichen Verbindung der Dokumentarfilmer, ist klar, dass etwas faul ist im Dorfe Loch Henry. Zu verdächtig war die alte VHS-Kassetten-Kollektion alter Krimi-Filme von Davis’ Mutter oder auch ihr Verhalten, nachdem sie die neuen Doku-Pläne erfahren hatte.

Nach einigen Drehtagen am Ort des Geschehens stellt sich irgendwann heraus, dass Davis‘ Eltern selbst den Mordfall orchestriert und das junge Ehepaar mithilfe von Iain Adair (Tom Crowhurst) gefoltert hatten. Die Krimi-Aufnahmen waren überspult, darauf fanden sich noch immer Bilder der grausamen Taten, während denen Mutter Janet als „Mistress“ mit einer Bohrmaschine und roten Maske auftritt. Die eigentliche Story von „Loch Henry“ ist nicht zwangsläufig besonders, eine gute, aber vorhersehbare True-Crime-Geschichte, die man guten Gewissens mit den Worten, „noch eine True-Crime-Serie halte ich nicht aus“, abtun kann. Diese Folge unterstreicht aber einmal mehr eindrucksvoll die Stärke von «Black Mirror». „Loch Henry“ ist immer dann am besten, wenn es kaum auffällt. Die Nebensätze sind entscheidend. Grautöne machen Schwarz-Weiß-Bilder eben erst bunt. Sie äußern Kritik, in dem die Schicksale von acht verschwundenen Menschen weggewischt werden durch den Tod von Prinzessin Diana zur selben Zeit – Aufmerksamkeits-Ökonomie nennt man das 26 Jahre später. Das Internet vergisst aber nie, weshalb es keine Touristen gibt. Mördergeschichten lesen sich schließlich auf Tripadvisor wesentlich unattraktiver aus, als sie sich auf Netflix und Co. anschauen lassen. Dokus über Mordfälle dienen als Tourismus-Booster für verwaiste Regionen, weil die Bilder toll produziert sind? Das Problem wird schon im nächsten Satz ersichtlich: „Wie heißt nochmal diese Netflix-Serie über diesen Frauen-Mörder?“ – „Geht es nicht vielleicht ein bisschen genauer?“ Die Fülle an Content ist riesig, der True-Crime-Hype auch nach Jahren noch nicht abgeebbt. Daher ist das Wörtchen Netflix sicherlich nicht zufällig hier gewählt worden, sondern kann durchaus als Kritik am eigenen und allen anderen Sendern verstanden werden, denn kaum eine Plattform verzichtet dieser Tage auf True-Crime-Geschichten im Programm. Das Ausschlachten geht sogar so weit, dass der Serien-Stellvertreter Streamberry natürlich von „Loch Henry“ eine Drama-Serie nachschießen will.

Das ist letztendlich auch die Moral dieser fantastisch runden Geschichte. Davis erreicht schließlich sein Ziel und gewinnt den anvisierten und von Stuart vorausgesagten BAFTA-Award, zwar nicht mit seiner Eiersammler-Geschichte, dafür mit einem unglaublich persönlichen Bezug zu einer Tragödie aus den 90er-Jahren. Freude will auf der Bühne natürlich nicht aufkommen – wie auch wenn man erfahren hat, dass die eigenen Eltern ein mörderisches und perverses Schattenleben geführt haben. Auch nicht als Stuart ihn aus dem überfüllten Pub anruft und den Hörer seinen Gästen hinhält, die mit roten Masken den Sieg feiern. Grotesk mal tausend.

Drehbuchautor Charlie Brooker will diese Folge als Appell verstanden wissen, dass die Öffentlichkeit und vor allem Medien, sich nicht unbedacht auf jede Geschichte stürzen sollte, nur weil sie interessant erzählt werden kann. „Das ist echt, das ist kein fucking Content!“, wie es Davis bereits nach einem Drittel der Folge passend zusammenfasst. Wie echt „True-Crime“ ist, geht ohnehin aus dem Wort hervor. Die Kriminalgeschichten fußen auf wahren Begebenheiten. Nie wird das in der letzten Szene von „Loch Henry“ ersichtlicher. Und der Appell an das Publikum stammt aus der ersten Folge „Joan is Awful“, denn beim Konsumieren sollte man sich immer vor Augen halten, dass hinter True-Crime immer ein reales Schicksal steckt, was selbstverständlich vordergründlich die Faszination für das Genre ausmacht, aber eben auch nicht einfach so mit den Worten, „noch eine True-Crime-Serie halte ich nicht aus“, abgetan werden sollte.

Die sechste Staffel von «Black Mirror» ist seit dem 15. Juni 2023 bei Netflix abrufbar.