Das Tokio der späten 80er, eine Frau verschwindet, die Mörderin scheint gefunden, doch selten sind die Dinge bekanntlich so, wie sie im ersten Moment scheinen. Wie sie tatsächlich sind, erfährt, wer sich mit Alicia Vikander auf eine faszinierende und durchaus düstere filmische Reise begibt ...
Werden Schauspielerinnen und Schauspieler danach gefragt, weshalb sie sich für ihren Beruf entschieden haben, antwortet die Mehrheit von ihnen zumeist: „Weil ich es liebe, in andere Rollen zu schlüpfen.“ Gut, könnte man meinen, das bringt der Job eben mit sich. In jedem Film, jedem Theaterstück, jeder Serie oder jedem Hörspiel trägt er oder sie schließlich einen anderen Namen und verschafft dem Publikum einen Einblick in ein (zumeist) fiktives Leben. Im Laufe einer Karriere sammeln sich auf diese Weise eine Menge Charaktere an, denen man Leben eingehaucht hat. Und je mehr Rollen in einer Vita zu finden sind und je erfolgreicher die Produktionen, in denen sie oder er zu sehen war, desto stärker die entsprechenden Performances, ist ja logisch …oder etwa nicht?
Alicia Vikander ist nun eine Vertreterin ihrer Zunft, die die ihr angebotenen Skripts offenbar sehr gezielt daraufhin abklopft, ob sie ihr die Möglichkeit zum „Fremd-Erscheinen“ überhaupt bieten. Und daher liegt es mehr als nur auf der Hand, warum sich die langjährige Balletttänzerin, die es schon früh auf die Bühne gezogen hat, auf das Abenteuer «Wo die Erde bebt» eingelassen hat. Immerhin handelt es sich bei ihrer Rolle, Lucy Fly, um eine nach Japan ausgewanderte Übersetzerin, die – hier nimmt der von Ridley Scott produzierte Film eine kleine Anpassung im Vergleich zur literarischen Vorlage vor – ursprünglich aus Schweden kommt, aber perfekt Englisch spricht. Als Protagonistin steht sie logischerweise auch im Zentrum des Geschehens, Regisseur Wash Westmoreland geht allerdings einen Schritt weiter – so wie er es bei seinen letzten cineastischen Arbeiten ebenfalls getan hat: Die komplette Handlung von «Earthquake Bird», so der Originaltitel, wird nämlich nicht nur von der Hauptfigur bestimmt, sie ist gewissermaßen deren pulsierendes Herz. Bei «Still Alice – Mein Leben ohne Gestern», in dem Julianne Moore brillierte, und «Colette», der von Keira Knightley getragen wurde, war es ganz ähnlich. Das letztgenannte Historiendrama war gleichzeitig das erste Projekt, das Westmoreland ohne seinen langjährigen Lebens- und Arbeitspartner Richard Glatzer, der 2015 einer schweren Krankheit erlag, vollenden musste. «Wo die Erde bebt» das erste, das er nach dem Tod seines Ehemanns realisierte.
Lucy Fly verfügt über all diese Eigenschaften, spricht fließend Japanisch und überrascht damit mehrfach ihre Gesprächspartner. Außerdem musiziert sie mit einigen Japanerinnen unterschiedlichen Alters, die junge Frau ist Cellistin, und besitzt eine schöne Wohnung – besser integriert kann man wohl nicht sein. Und doch erwähnt sie einmal – beinahe beiläufig –, dass sie gerne allein ist. Moment, wie passt das zu einem Leben in einer der Städte mit der weltweit höchsten Bevölkerungsdichte? In der Frage steckt die Antwort: Wo viele Menschen leben, fällt es einem sehr viel leichter, in der Menge unterzugehen als in einer Kleinstadt – vor allem wenn man es darauf anlegt. Nun ist es nicht so, dass die Engländerin keine sozialen Kontakte hätte – s. oben –, die Ausgewanderte lässt jedoch niemanden so recht an sich heran – auch die wenigen von ihr gepflegten Freundschaften sind keine tiefgehenden. Und das liegt eindeutig nicht an den Menschen aus ihrem Umfeld. Aber warum ist Alicia Vikander die ideale Besetzung für diese Figur?
Doch weit gefehlt: In dem Gegenwartsthriller «Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt» spielte sie an der Seite von etwa Daniel Brühl, Moritz Bleibtreu und Benedict Cumberbatch Anke Domscheit-Berg, eine Deutsche, nachdem sie in den Historiendramen davor schon eine Dänin und eine Russin verkörpert hatte. In dem kleinen, aber feinen und sehr berührenden Weltkriegsdrama «Testament of Youth» dann eine Engländerin neben beispielsweise Jon Snow, äh, Kit Harington und in «Son of a Gun» wie auch später in «Liebe zwischen den Meeren» – bei dieser Produktion lernte sie übrigens ihren jetzigen Mann Michael Fassbender kennen – eine Australierin. In «Im Rausch der Sterne» ließ sie die Kinobesucher 2015 glauben, eine Französin zu sein, die sich mit Bradley Cooper „herumschlagen“ musste und in der Action-Komödie «Codename U.N.C.L.E» von Guy Ritchie bewies sie als Gaby aus Ost-Berlin komisches Talent und zeigte sich gleichzeitig von einer sehr toughen Seite. Ihren Oscar als beste Nebendarstellerin gewann sie für ihre herausragende Leistung in «The Danish Girl» als Dänin Gerda Wegener, der Ehefrau von Eddie Redmaynes Figur, die sich im falschen Körper fühlt. Bei Matt Damons Rückkehr als Jason Bourne in «Jason Bourne» durfte sie 2016 dann die CIA-Agentin Heather Lee mimen und 2017 in «Tulpenfieber» die Niederländerin Sophia Sandvoort, deren Gatte von Christoph Waltz dargestellt wurde. Danach wirkte Vikander in «Euphoria», bei dem ihre enge Vertraute und Förderin Lisa Langseth Regie führte, und dem von Wim Wenders inszenierten «Grenzenlos» mit, die allerdings bei Weitem nicht so viel Beachtung fanden wie zwei andere Leinwandabenteuer, denen sie ihren Stempel aufdrückte.
Sofern man die Actrice 2012 nicht als Königin Caroline Mathilde erlebt hatte, dürften viele, die sich 2015 den Science-Fiction-Geheimtipp «Ex Machina» von Alex Garland im Lichtspielhaus ihres Vertrauens angesehen haben – wenige Monate nach dessen Veröffentlichung gab die junge Schauspielerin zudem ihr Fantasy-Debüt in «Seventh Son» –, ihren Augen nicht getraut und spätestens beim Abspann nur noch eine Frage im Sinn gehabt haben: Wer war das, der diese wahnsinnig facettenreichen KI Ava auf so eindrucksvolle Weise zum Leben erweckt hat? Die Antwort überspringen wir, denn allerspätestens 2018 wusste es die Mehrheit derer, die es wissen wollten, da trat Alicia Vikander nämlich das Erbe von Angelina Jolie als Lara Croft – bekanntermaßen eine britische Adlige – in «Tomb Raider» an. Dieser Blockbuster steigerte nicht nur ihre Popularität von jetzt auf gleich massiv, sondern brachte ihr einmal mehr eine Menge Bewunderung ein, weil sie auch als Actionheldin, die sich so selten wie möglich doublen ließ und im Vorfeld der Dreharbeiten enorm viel trainiert hatte, auf ganzer Linie überzeugte – und aus einem durchschnittlichen einen sehenswerten Film machte. Die entscheidende Erkenntnis ist demnach folgende: Die Oscarpreisträgerin hat sich geradezu darauf spezialisiert, sich „Fremdes" regelrecht zu Eigen zu machen, Sprachen oder zumindest Akzente zu erlernen respektive zu perfektionieren und sich wieder und wieder neuen Herausforderungen zu stellen. Kein Hürde ist ihr offenbar zu hoch.
Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Westmoreland mit den beiden anderen – vermeintlich – zentralen Figuren verfährt: Newcomer Naoki Kobayashi, der sich in Japan vornehmlich als Tänzer und J-Pop-Künstler einen Namen gemacht hat, spielt Teiji. Viel erfährt man nicht über ihn und alles kann aus Spoiler-Gründen nicht verraten werden, allerdings ist das auch eigentlich gar nicht nötig. Im Grunde steckt das Wichtigste schon im ersten Treffen zwischen dem Japaner und Lucy Fly. Er fotografiert – unter anderem sie –, sie will daraufhin wissen, ob er dazu nicht eigentlich ihre Erlaubnis bräuchte, dann geht es noch ein paar Mal hin und her und „das Ende vom Lied": Die beiden gehen etwas Trinken und unterhalten sich. Ja, mehr nicht und das bleibt lange so, und das ist dramaturgisch auch genau das Richtige, weil es jeden Anflug einer vorgefertigten Klischeeszene schon im Keim erstickt. Beide wollen überdies „ehrlich“ zueinander sein, was dazu führt, dass er sie ab diesem Zeitpunkt mit ihrer Erlaubnis ablichten darf, und das viele, viele Male, bevor mehr passiert, wobei für ihn Sex nicht im Ansatz den Stellenwelt zu haben scheint wie das Einfangen ganz bestimmter Momente.
Diese gemeinsamen Shootings kann man aber auch anders deuten und muss es irgendwann sogar: Fotograf und Model haben nicht grundlos immer einen bestimmten Abstand zueinander und somit sind selbst Porträtaufnahmen auch immer Ausdruck von Distanz. Auf Lucy gemünzt heißt das, dass selbst die Person, die sie offensichtlich so nahe an sich heranlässt, der sie an einem bestimmten Punkt gar etwas sehr Persönliches anvertraut, für sie ein Fremder bleibt, weil sie nicht den Schritt geht, den die Engländerin, die sonst alle auf Abstand hält, bereit ist, zu gehen. Und dies mündet spätestens dann in einem „Machtspiel“, als die von Riley Keough, ihres Zeichens Enkelin von Elvis und Star der ersten Staffel «The Girlfriend Experience», dargestellte Lily Bridges in das Leben des Paares tritt. Diese ist nämlich so ziemlich das komplette Gegenteil von Lucy Fly: lebensfroh, lustig, locker, gesellig, allerdings ebenfalls ziemlich „verpeilt“ und (allein schon aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse) unselbstständig. Daher steht das Kennenlernen der Frauen auch unter völlig anderen Vorzeichen als das von Teiji und Lucy, da der „Neuankömmling“ auf die Hilfe der „Alteingesessenen“ setzt, die wiederum widerwillig mitspielt. Allerdings sind drei bekanntlich einer zu viel. Das Spannende: Das Was, Lilys Verschwinden, ist von Anfang an ein offenes Geheimnis, die Fragen nach dem Wie und Wer sind es, die es zu klären gilt, jedoch, wie angesprochen, nur vordergründig.
Da aber die Augen der Spiegel zur Seele sind, wie zumindest der Volksmund behauptet, braucht es – und so schließt sich der Kreis –, um all das Aufgeführte durch einen Bildschirm hindurch transportieren zu können, eine Schauspielerin, die einer solch anspruchsvollen Aufgabe auch gewachsen ist. Die es beherrscht, mit Mimik und Gestik so viel mehr zu sagen, als im gesamten Film zu hören ist oder sich aus dem Handeln der Figuren ableiten lässt, und vor allem braucht es jemanden, der dem Publikum „fremd erscheinen" und sich als Person vollkommen zurücknehmen kann. Jemanden, der allerdings ebenfalls dazu in der Lage ist, die gesamte Emotionspalette zu bedienen und den Streamenden zu gegebener Zeit zu vermitteln, wann Lucy erstmals wirklich Hoffnung schöpft, wann es ihr endlich gelingt, einmal eine andere Perspektive einzunehmen und was nötig ist, um sich eventuell selbst vergeben zu können.