Die Kino-Kritiker

«Deadpool»

von

Mit «Deadpool» bekommt das Genre des Superheldenfilms eine besonders freche Variante spendiert.

Filmfacts «Deadpool»

  • Regie: Tim Miller
  • Produktion: Lauren Shuler Donner, Simon Kinberg, Ryan Reynolds
  • Drehbuch: Paul Wernick, Rhett Reese; basierend auf der von Fabian Nicieza und Rob Liefeld kreierten Comicfigur
  • Darsteller: Ryan Reynolds, Morena Baccarin, Ed Skrein, T. J. Miller, Gina Carano, Brianna Hildebrand, Stefan Kapičić
  • Musik: Junkie XL
  • Kamera: Ken Seng
  • Schnitt: Julian Clarke
  • Laufzeit: 108 Minuten
  • FSK: ab 16 Jahren
Anfang 1991 platzte er in die Marvel-Comicwelt – und ist seither nicht mehr aus ihr wegzudenken: Deadpool, das kindisch-sadistische Plappermaul, das sich auf Illusionsbrechungen spezialisiert hat. Der in einem roten Ganzkörperanzug gekleidete Söldner weiß, dass er sich nur in einer fiktiven Comicerzählung befindet und richtet sich daher regelmäßig an die Leserschaft, kommentiert Klischees und lässt zahllose popkulturelle Referenzen vom Stapel. Dieser süffisante Humor, gepaart mit einer lakonisch-humorigen, zügellosen Gewaltdarstellung, die mit Deadpool in den Comics zumeist einhergeht, machen den Mutanten zu einem wahren Fanfavoriten. Ein eigener Kinofilm wäre im Normalfall genau deswegen nicht fern. Aber die Kombination aus derbem Witz und kerniger Gewalt weckt nicht gerade das Vertrauen der Studiobosse, insbesondere nicht im Bereich des kostspieligen Superheldenkinos.

Nach jahrelangem Bangen hat «Deadpool» aber eine Form angenommen, die der frechen Titelfigur durchaus gebührt. Dazu benötigte es nur stete Nachfragen der Fans, eine euphorische Reaktion auf (kalkuliert?) geleaktes Testmaterial sowie einen Hauptdarsteller, der das Studio unermüdlich darum angebettelt hat, den Film machen zu dürfen, ohne Deadpools Kernigkeit auf dem Altar der Familientauglichkeit opfern zu müssen. Dieses feurige Engagement, das Ryan Reynolds hinter den Kulissen gezeigt hat, beweist der «Green Lantern»-Hauptdarsteller auch vor der Kamera. Somit ist Reynolds unmissverständlich der wertvollste Aspekt dieses pointenreichen Actionfilms. Denn der Charme und Witz des Mimen helfen dabei, die kleineren Makel zu mildern, die «Deadpool» leider Abzüge in der B-Note geben.

Aber der Reihe nach. Selbst wenn der mörderische Typ mit den Superheilkräften nicht viel davon hält, der Reihe nach vorzugehen: «Deadpool» eröffnet mit einer Actionsequenz auf einer Schnellstraße, die den skrupellosen Anti-Helden dabei zeigt, wie er es ganz allein mit einer großen Truppe von Schurken aufnimmt. Deadpool, der dieses Scharmützel genießt, befindet sich nämlich auf der Suche nach dem Mutanten Ajax (Ed Skrein), von dem er sich erhofft, dass er ihm sein einstiges, makelloses Antlitz wiedergeben kann. Seine ihm innewohnenden Entertainerqualitäten gebieten es Deadpool aber, die Kampfsequenz mehrmals zu unterbrechen, um dem Publikum seine Herkunftsgeschichte zu erläutern.

Einst war Deadpool lediglich der Auftragsrüpel Wade Wilson, der es gegen ein Entgelt mit jedem aufgenommen hat, der in den Augen seiner Auftraggeber einen Denkzettel verdient. Eines Abends verknallt sich der attraktive Einzelgänger in Vanessa («Homeland»-Mimin Morena Baccarin), ihres Zeichens eine Dame der Nacht. Wade und Vanessa teilen einander eine dunkle Vergangenheit und einen gigantischen Appetit auf Sex – und verlieben sich daher. Das Glück nimmt ein jähes Ende, als Wade praktisch überall in seinem Körper Krebs bekommt, wo man Krebs bekommen kann. Also unterzieht er sich einer brutalen Behandlung, die ihn mutieren lässt – und unfassbar hässlich macht …

Das Wechselspiel zwischen Rückblenden und Gegenwart, das die Autoren Paul Wernick & Rhett Reese («Zombieland») abhalten, führt bedauerlicherweise vor, wie sehr sich «Deadpool» verheddert: Einerseits bemüht sich der Film redlich, Genrekonventionen auf den Kopf zu stellen. Von der moralisch korrumpierten Titelfigur hin zu launigen Kommentaren über Produktionskosten und dem akzentuierten Einsatz von Hintergrundmusik: Der irre Deadpool teilt wiederholt gut sitzende Seitenhiebe aus (was etwa in einen saukomischen Vorspann mündet) und auch die eigenwillige Erzählstruktur lässt sich als anarchischer Einfall verstehen. Andererseits vermeiden Wernick und Reese trotzdem nicht die genretypischen Expositionsdialoge und halten sich zudem damit zurück, die alltägliche Erzählstruktur völlig auszuhebeln: Irgendwann verlassen wir dann doch noch die Schnellstraße und die Rückblenden nehmen ebenfalls ein Ende ...

Das macht «Deadpool» keineswegs zu einem schwachen Film. Allerdings hätte es perfekt zum Humor des Anti-Helden gepasst, wäre sein erster eigener Kinofilm eine einzige, extralange Actionsequenz, die bloß durch ein paar Rückblenden unterbrochen wird. Die Zurückhaltung, die tragenden Säulen klassischer Superheldenfilme einzureißen, macht sich auch darin bemerkbar, dass die pfiffigen Meta-Kommentare vergleichsweise vorsichtig dosiert sind und die Gewaltspitzen zwar für eine FSK ab 16 Jahren reichen, nie aber derb-kreative Gefilde erreichen. Die verstörende Ader der Titelfigur zeigt sich daher nur ansatzweise – sollte es eine Fortsetzung geben, besteht also noch Luft nach oben. Auch einen einprägsamen Instrumentalscore ist 20th Century Fox Deadpool noch schuldig – bislang kann sich der Supersöldner nur mit einem coolen Mixtape an Archivmusik rühmen. Und natürlich mit einem beeindruckenden, praktischen Kostüm, das keinerlei Parallelen zu der CG-Katastrophe hat, die Reynolds in einem anderen Superheldenfilm tragen musste ...

Auch wenn «Deadpool» nicht ganz so rücksichtslos, knallhart und durchgeknallt ist, wie es die Figur ermöglicht hätte, so versprüht der launige, kecke Film ganz klar das Flair des wilden Comicstars und weiß auch ohne Tabubrüche zu unterhalten. Reynolds hat ein begnadetes komödiantisches Timing, bringt aber obendrein die wenigen dramatischen Momente überzeugend rüber: Wenn Wade etwa nach seiner Krebsdiagnose in einer Rückblende seine Geliebte mit einem Witz zu beruhigen versucht, dann vermitteln Reynolds' gesenkter Blick und seine brüchige Stimme, dass seine Figur längst nicht so emotionslos ist, wie sie sich gibt. Diese und ähnliche Szenen sorgen dafür, dass «Deadpool» nicht bloß eine kernige, wilde Superhelden-Actionkomödie darstellt, sondern auch Spannung entwickelt – denn die abgedrehte Titelfigur ist eine, mit der man mitleiden kann.

Und selbst die obligatorische Lovestory funktioniert: Zwar ist die Liebe zwischen Wade/Deadpool und Vanessa alles andere als tiefgreifend, jedoch bringen Reynolds und Baccarin sehr gut die sexuelle Anziehungskraft zwischen ihnen rüber. So gut, dass die Dynamik zwischen diesen zwei Figuren, bei denen sich alles nur um Sex dreht, glaubwürdiger ist als das Gros der züchtigeren, charakterbasierten Romantiksubplots in Actionfilmen. Die triebgesteuerte Flirterei zwischen Vanessa und Wade/Deadpool hat obendrein mehr Witz als die direkten Konfrontationen mit dem blassen, britischen, bösen Buben Ajax. Darsteller Ed Skrein kann der mäßig geschriebenen Rolle kaum mehr als ein selbstgefälliges Grinsen abringen, ebenso wie Gina Carano als Handlangerin keine Bereicherung für den Film darstellt. Da sind Brianna Hildebrand und Stefan Kapičić als heldenhafte Mutanten, die Deadpool auf den makellosen Pfad der Tugend locken wollen, schon deutlich witziger und erfrischender – selbst wenn sie recht wenig Einfluss auf die Story haben.

Regienovize Tim Miller, der zuvor unter anderem den Vorspann von David Finchers «Verblendung» verantwortete, liefert somit einen spaßigen, außergewöhnlichen Superheldenfilm als sein Debüt ab. Die Inszenierung erfolgt in den flotten Actionpassagen zwar zielgerichteter als der Bruch mit den Genrekonventionen, ein härterer Director’s Cut ist aber bereits im Gespräch und vielleicht ist «Deadpool» auch erfolgreich genug für ein mutigeres Sequel. Zu gönnen wäre es dem „Merc with a Mouth“, wenn er nach einem guten Solofilm auch einen Kracher erhält.

Fazit: «Deadpool» bleibt hinter seinen Möglichkeiten in Sachen sadistisch-spaßiger Gewalt und kesser Meta-Spielchen zurück. Dennoch sorgen der frech-flotte Humor und Ryan Reynolds‘ Performance für rund 100 launige Kinominuten, die weniger verbale Zurückhaltung kennen, als normale Superheldenfilme.

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