Ein Blick zurück und einer nach vorn: Die aktuelle «Tatort»-Lage

Vor Beginn der neuen «Tatort»-Saison ziehen wir ein Zwischenfazit und schauen auf kommende Höhepunkte: Wenn Hochburgen ins Schwanken geraten und ehemals uninteressante Standorte mit Ideen punkten ...

Die jüngste «Tatort»-Vergangenheit


Die Renaissance des «Tatorts» war auch in der vergangenen Fernsehsaison ungebrochen. Woche für Woche fährt das Format (oder das kaum von ihm zu unterscheidende DDR-Fernsehen-Relikt «Polizeiruf 110») exzellente Reichweiten ein und gilt als eines der letzten Lagerfeuer der hiesigen Fernsehlandschaft. Kurz: Die Deutschen stehen drauf.

Das sagt jedoch nicht nur etwas über den anhaltenden Erfolg der Reihe aus, sondern auch über ihre Zuschauer, über ihre Präferenzen, vielleicht auch über ihre Weltsicht: nicht selten etwas biedere Krimis mit Ermittlern, die oft ein bisschen von gestern sind. Mordfälle, herumgeschrieben um soziale Brandthemen, die dann lieber populistisch als diskursiv verhandelt werden. Und eine Welt, deren Ordnung am Schluss ausnahmslos wiederhergestellt wird, nachdem der Schuldige ermittelt und seiner gerechten Strafe zugeführt worden ist.

Es gibt Brüche in diesem etwas klischeehaften Leitbild: Den Meta-Krimi aus Wiesbaden zwischen den Jahren zum Beispiel, oder die herausragenden Einzelstücke aus Köln und Konstanz – ausgerechnet zwei «Tatort»-Metropolen, die in der Vergangenheit nicht durch spannende Plots, einnehmende Figuren oder innovative Erzählweisen aufgefallen sind, sondern durch deren Gegenteil: Behäbigkeit, das formstarre Abspulen ideenarmer Handlungsversatzstücke, schemenhafte Dialoge, auserzählte Charaktere. Die vergangene Saison hat gezeigt: Auch mit uralten Rollen lassen sich noch spannende Geschichten erzählen, wenn man denn den richtigen Zugang zu ihnen findet. Dass «Kartenhaus» und «Rebecca», so die Titel der beiden Ausnahme-Folgen, mit die besten Einschaltquoten am ARD-Sonntagabend eingefahren haben, zeigt, dass auch der vermeintlich Gewohntes bevorzugende Zuschauer auf diesem Sendeplatz solche neuen Ansätze zu schätzen – und zu honorieren – weiß.

Einstige Eckpfeiler der Innovation innerhalb der «Tatort»-Marke haben dagegen weiter abgebaut: Die einst mit erstaunlicher narrativer Dichte und psychologischer Komplexität erzählte Dortmund-Reihe ist zu einem Sammelsurium des Beliebigen geworden, zum Durchschnitt des Durchschnitts, weit unter den ehemaligen Ansprüchen. Und die Wiener Kollegen Eisner und Fellner, die einmal mit erstaunlicher Schonungslosigkeit Themen wie organisierten Kindesmissbrauch und gefährliche Seilschaften im Land der Berge angegangen sind, begnügen sich nun mit diffusen Allerweltsstoffen um Intrigen in Casting-Shows und fahrig heruntergeschriebenen Episodenhauptrollen mit nicht näher klassifizierbaren küchenpsychologisch erzählten kognitiven Fehlfunktionen.

Es klingt ein bisschen wie verkehrte Welt: Aber wenn die ehemaligen «Tatort»-Spitzenmetropolen Dortmund und Wien von den ehemaligen Krimi-Entwicklungsstädten Köln und Konstanz lernen würden, wäre viel gewonnen.

Die nähere «Tatort»-Zukunft


In den kommenden Wochen wird sich herausstellen, ob sich dieser Trend (nachlassende Hochburgen, sich steigernde Entwicklungsstädte) fortsetzt. Bereits in der zweiten Woche nach der «Tatort»-Sommerpause (also am 28. August) gibt es ein potentielles Highlight zu begutachten: In Stuttgart schreit schon der Folgentitel «HAL» nach der Aufmerksamkeit von Cineasten – denn dieser Name spielt auf den Computer in Stanley Kubricks «2001: Odyssee im Weltraum» an. Ob die Story über ein SocialAnalysisProgramm weitere Kubrick-Anleihen bereit hält, muss sich erst noch zeigen, aber die Ankündigung, sie spiele „in der nahen Zukunft, die vielleicht schneller Gegenwart ist, als wir erwarten“, macht hellhörig. Mit Ken Duken übernimmt zudem ein bekannter Name eine Gastrolle.

Auch in Konstanz stehen mögliche Filmreferenzen zu erwarten. Der meist recht bornierte, zuletzt aber positiv überraschende «Tatort» sorgt in der Folge «Wofür es sich zu leben lohnt» (18. Dezember) nämlich für ein Stelldichein früherer Schauspielerinnen aus Filmen des Regieurgesteins Rainer Werner Fassbinder. Neben Klara-Blum-Darstellerin Eva Mattes, die sich hiermit aus der Reihe verabschiedet, sind Hanna Schygulla, Irm Herrmann und Margit Carstensen am Krimi beteiligt. Letztere spielen eine Schwesternschaft, die im Verdacht steht, an einer Mordserie an Männern schuld zu sein.

Fans des überaus populären Teams aus Münster kommen dagegen schon am 25. September zum Zug. Darin gerät ein Rechtsmediziner unter Mordverdacht, der aus seinen ständigen Rachefantasien nie einen Hehl gemacht hat – aber wäre es für Thiel und Boerne nicht etwas zu simpel, den Hauptverdächtigen einzubuchten? Laut Senderangaben beinhaltet der Neunzigminüter übrigens einen gefährlichen Wettlauf gegen die Zeit, um Boerne während seiner «Feierstunde» in einem Nobelrestaurant zu beschützen – man darf gespannt sein, ob dieser Fernsehfilm ein Münster-Kracher oder ein sanftes Münster-Schmunzeln darstellt.

Ein weiteres viel diskutiertes «Tatort»-Team kommt am 20. November zum Einsatz: Die 1001. Folge der berühmten ARD-Krimimarke spielt in Wiesbaden. Murot, dessen Fälle in den vergangenen Jahren vor Metakommentaren platzten, muss dieses Mal einen perfiden Serienmörder aufhalten. Dieser hat es, wie sich rausstellt, auf Murot abgesehen und ist mit allen Wassern gewaschen. «Es lebe der Tod», sagt man sich da wohl besser … Sieben Tage früher wird mit «Taxi nach Leipzig» der 1000. «Tatort» gefeiert. Darin quetschen sich Kommissarin Lindholm aus Hannover und Kommissar Borowski aus Kiel in ein Auto, um einen ehemaligen Elitesoldaten von einem Rachemord abzuhalten. Zu erwarten stehen zahlreiche Anspielungen auf die gleichnamige «Tatort»-Auftaktfolge und die Jahrzehnte der Krimikost, die sie losgetreten hat.

Am 11. Dezember wiederum wird in Berlin mit der Episode «Dunkelfeld» die seit drei Folgen aufgebaute Story rund um Robert Karows mysteriöse Vergangenheit zu einem Ende gebracht. München hingegen bekommt mit „Klingelingeling“ die Ehre, den diesjährigen Weihnacht-«Tatort» auszurichten. Darin findet der Polizeichor am Alten Südfriedhof ein erst kürzlich verstorbenes Baby. Noch ohne konkreten Termin, aber nicht minder erwähnenswert, sind derweil das Debüt der neuen Ermittler aus dem Schwarzwald, denen Harald Schmidt als Chef einheizen wird, sowie der wahrscheinlich im Februar 2017 laufende Fall «Babbeldasch». Der Krimi aus Ludwigshafen wurde allein auf einem Treatment basierend gefilmt, also ohne konkretes Skript. Ob Improvisationen beim «Tatort» für weiteren frischen Wind sorgen werden? Oder war die vergangene «Tatort»-Saison nur ein kleines Irrlicht?
19.08.2016 12:04 Uhr  •  Julian Miller und Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/87558