Popcorn und Rollenwechsel, Wim Wenders und großes öffentlich-rechtliches Kino

Ein Kino namens "ARD-Mediathek" betreibt derzeit eine wunderbare, weitreichende Werkschau des Werkes von Wim Wenders.

Er ist einer der größten deutschen Autorenfilmer. Eine der aktivsten Stimmen des Neuen Deutschen Films. Jemand, der sich als "Reisender" sieht. Ein Künstler, der dem 3D-Kino gegenüber offen eingestellt war (auch wenn er die dritte Dimension nach seinen stark inszenierten Ausflügen wieder aufgegeben hat). Er ist ein sehr bildlich inszenierender Regisseur. Und er wird 75: Am 14. August feiert der Düsseldorfer ein großes Jubiläum, und Das Erste feiert mit. Wenn auch dezentralisiert-multimedial, statt mit einem großen Knalleffekt. Das hat so seine Glanzlichter und Schattenseiten.

So wird der große Wim-Wenders-Jubiläumsfilm, die Reportage «Wim Wenders, Desperado» von Eric Friedler und Andreas 'Campino von den Toten Hosen' Frege, an Wenders Geburtstag um 23.50 Uhr ausgestrahlt. Das Erste feiert sozusagen mehr raus aus Wenders' Geburtstag, als in ihn rein zu feiern. Oder gar dem einflussreichen, vielfach prämierten Filmkünstler Ehre zur Primetime Ehre zukommen zu lassen. Das ist schon traurig, zumal Wenders für die ARD nicht einfach ein Irgendwer ist. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat Wenders' Schaffen zu nicht unerheblichen Teilen querfinanziert.

Andererseits: Das Erste hakt Wenders' Jubiläum nicht einfach mit einem TV-Termin ab, sondern begeht dieses Ereignis auch im Internet. Wo es Publikumskreise erreichen dürfte, die im linearen Programm der ARD schwerer zu erreichen sind. Jene, die in einer Zeit geboren wurden, in der der Stolz auf das heimische Kino nachgelassen hat, und die daher Nachholbedarf haben. Nicht grundlos sagt Werner Herzog dass er allen Filmstudierenden einbläuen würde, sie müssten sich mit seinem Kollegen auseinandersetzen: "Wenn du Filme machen willst, schau dir Wims Filme an, du Depp."

Und egal, ob man Filme machen will oder einfach nur Filme liebt und entweder riesige Lücken zu schließen hat oder bloß eine Ausrede brauchte, Wenders' Œuvre erneut zu besichtigen: Noch bis zum 14. September lässt sich in der ARD-Mediathek eine riesige Wim-Wenders-Werkschau finden. WWW im WWW – soll bitte nie wieder wütend aufgeschrien werden, von "unseren Rundfunkgebühren" hätte man "nichts" und "bei Netflix kriegt man wenigstens für's Geld". Ein ganzes Dutzend an VOD-Abos würde nicht helfen, um da an cineastischem Genuss aus versierter deutscher Filmemacherhand mitzuhalten.

Egal, ob es der publikumsträchtige «Buena Vista Social Club» ist, Filme mit Hollywoodstars wie «Am Ende der Gewalt» (Bill Pullman & Andie MacDowell) oder der von «Doctor Strange»-Regisseur Scott Derrickson mitverfasste «Land of Plenty» (Michelle Williams), Klassiker wie der herzzerreißende «Der Himmel über Berlin» und der fesselnde «Paris, Texas», oder halt Kleinode wie «Chambre 666». Letzterer ist einer von Wenders' raren Fernsehausflügen und wird daher viel zu oft übergangen – dabei gewinnt der Film, in dem sich Wenders und andere Regiegrößen austauschen, fast schon in verlässlichen Konjunkturwellen an Gewicht.

In «Chambre 666», entstanden im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes 1982, geht es nämlich um die Sorge großer Filmschaffender, das Ende des Kinos sei unvermeidbar und stünde unmittelbar bevor. Um es mit dem Titel eines anderen Wenders-Films zu sagen: Dieses Kollegengespräch ist «In weiter Ferne, so nah!».
12.08.2020 07:50 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/120525