Blick in die Glaskugel: Welche Zukunft haben die Marvel-Serien bei Netflix?

Mit «The Defenders» erreichte Netflix im Rahmen seiner Marvel-Serien den ersten Meilenstein. Wie sehenswert waren die Formate rückblickend und könnte Disney die Zukunft der Serien gefährden?

Blockbuster dominieren das heutige Kinogeschäft. Immer weniger Indie-Filme und neue Ideen schaffen es auf Kosten der Franchise-Bildung und Filmreihen-Schöpfung in die Lichtspielhäuser. Filmproduzenten und Studios denken heutzutage immer kommerzieller und erschaffen Adaptionen, Remakes, Reboots, Sequels und Prequels, weil diese die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass mehr Kinogänger aufgrund der bereits bestehenden Beliebtheit des Filmvorbilds eher ein Ticket lösen. In keinem Franchise findet sich dabei ein größerer Geldesel als im Marvel Cinematic Universe, das mit den «Avengers» und deren Mitgliedern jährlich mehrere Filmspektakel auf die Leinwände bringt, die nicht nur in der Presse selten durchfallen, sondern auch die Kassen klingeln lassen. Doch dem „MCU“ wird eine gewisse Formelhaftigkeit nachgesagt, nach der die Filme produziert würden, Kurzweil stelle man vor Tiefgang und überhaupt seien die Filme bloß nette statt wirklich relevante Unterhaltung.

Marvels große Schritte im Serienbereich


Während die Marvel-Filme im Kino trotzdem Erfolg um Erfolg einfahren, hinkte das Comicbuchunternehmen im Serienbereich bis vor wenigen Jahren noch dem großen Gegenspieler DC hinterher, der dafür im Kino Flop um Flop aneinanderreihte, ehe «Wonder Woman» in diesem Jahr den ersten Erfolg vermeldete. Vor allem im frei empfangbaren US-Fernsehen bei The CW installierte DC Comicbuchadaption um Comicbuchadaption, ehe Marvel erst mit Formaten wie «Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.» bei ABC nachzog und schließlich mit einer groß angelegten Netflix-Kooperation, die auch gewagtere Stoffe erlaubte.

Nachdem dort die Marvel-Helden «Daredevil», «Jessica Jones», «Luke Cage» und «Iron Fist» in eigenen Staffeln etabliert wurden, startete mit «Marvel’s The Defenders» nun die erste Serie um den Zusammenschluss der vier Marvel-Figuren, die Netflix schon von Anfang an ins Auge fasste und letztlich realisierte. Zeit für ein Fazit: Hielten Marvels Einzelserien bei Netflix ein gleichmäßig gutes Niveau? Wie fügen sich «The Defenders» qualitativ in die Marvel-Netflix-Zusammenarbeit ein? Und haben die Serien eine große Zukunft bei Netflix?

Die Einzelserien: «Daredevil», «Jessica Jones», «Luke Cage» & «Iron Fist»


Die Marvel-Netflix-Kooperation begann im April 2015 vielversprechend. Mit «Daredevil» machte der Streaming-Riese den Ben Affleck-Kinoflop um die gleiche Marvel-Figur vergessen und zeigte bereits, dass er mit seinen Marvel-Formaten größere Ambitionen hat als Comic-Fans mit einem Minimalaufwand in ein Abonnement zu locken. Die Serie um Charlie Cox als Titelfigur und gerechtigkeitsfanatischen, blinden Anwalt, der seine restlichen übermenschlich geschärften Sinne dafür nutzt, Verbrechern das Handwerk zu legen und einen Gangster-Boss zur Strecke zu bringen, hielt sich eng an die Comicbuchvorlage, verfügte über eine hohe Produktionsqualität und verzichtete dabei auf überbordende Dramatik. Statt eines Larger-than-Life-Helden folgten Zuschauer «Daredevil» bei seinem steinigen und düsteren Weg zum Heldentum, der großartige Martial-Arts-Kämpfe umfasste sowie tolle Kameraeinstellungen, die diese einfingen.

«Daredevil» brachte mit seiner schonungslosen Brutalität auch einen höheren Realitätssinn in das Superhelden-Genre, vernachlässigte jedoch dabei zu keinem Zeitpunkt seinen künstlerischen Stil. Lediglich in emotionalen Dialogen rutschte «Daredevil» ein ums andere Mal in leicht übertriebene Theatralik ab. «Daredevil», das in Staffel eins als erfrischend andere Origin-Story daherkam, kennzeichnet bislang das einzige Format, das bereits über eine zweite Season verfügt. Letztere büßte inhaltlich etwas an Sinnhaftigkeit und Tiefe ein, bot aber immer noch reichlich optische Leckerbissen und toll choreografierte Action. Jon Bernthals «Punisher», der in der zweiten «Daredevil»-Staffel auftrat, soll noch dieses Jahr in einer eigenen Serien in Aktion treten.

Auf «Daredevil» folgte im November 2015 «Jessica Jones» um eine launische Privatdetektivin mit übermenschlicher Kraft, die sich nach dem tragischen Ende ihrer kurzen Superheldenkarriere allerlei mysteriösen Fällen annimmt, die von Personen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten handeln. Mit David Tennant als widerlich böser Gedankenkontrolleur Kilgrave verfügte die erste «Jessica Jones»-Staffel über den bislang sehenswertesten Bösewicht und auch sonst spricht viel dafür, dass das an das Noir- und 70er-Kino angelehnte Format die bislang beste Einzelserie im Rahmen der Marvel-Netflix-Kooperation darstellt. Von einer launischen Krimi-Serie mit einer komplexen Antiheldin wandelte sich die erste Staffel schnell zu einem Comic-Actionthriller und letztlich zu einem vielschichtigen, psychologischen Missbrauchs-Drama.

Nachdem «Daredevil» Comicbuch-Action in hartem Realismus verortet hatte und «Jessica Jones» sich schon fantastischerer Elemente bedient, die jedoch einer Alltags-Logik unterlagen, folgte mit «Luke Cage» im September 2016 die bislang grellste Marvel-Serie um eine charismatische und selbstbewusste Titelfigur. Mike Colters «Luke Cage», der bereits in «Jessica Jones» eingeführt wurde und durch finstere Experimente übermenschliche Kraft und unzerstörbare Haut erhielt, kämpft in Staffel eins um seinen von Kriminalität durchsetzten Stadtteil Harlem. «Luke Cage» stellt sich den vergleichsweise realsten Problemen entgegen, dabei ist die erste Season um den Super- und Frauenhelden auch als intelligenter Kommentar auf urbane Missstände und die Sorgen von Afroamerikanern in den USA zu lesen. Die Serie, die sich mit viel Charme und großartiger Musik anfangs noch mit tatsächlich drängenden Fragen der US-Gesellschaft befasst, driftet gegen Ende der Staffel jedoch immer mehr in ein hanebüchenes Action-Fest ab.

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Während «Daredevil», «Jessica Jones» und auch «Luke Cage» von der Journaille sehr positiv aufgenommen worden waren, geriet die von langer Hand geplante, spektakuläre Zusammenführung der Helden in «The Defenders» im letzten Schritt noch ins Taumeln. «Iron Fist», der vierte und vorerst letzte Marvel-Charakter, der vor «The Defenders» etabliert werden sollte, zog eine Reihe vernichtender Kritiken nach sich. Darin kehrte der totgeglaubte Firmenerbe Danny Rand (Finn Jones) nach 15 Jahren nach New York zurück, um das Familienunternehmen seiner Eltern für sich in Anspruch zu nehmen, als ein alter Gegenspieler für Gefahr sorgt, der Rand zwingt, die mystischen Kräfte zu beschwören, die er sich in seiner Abwesenheit zu eigen machte. Fehlende Originalität, überbordende Theatralik, Berechenbarkeit und große erzählerische Schwächen wurden «Iron Fist» vorgeworfen. Selbst die Martial-Arts-Sequenzen enthielten nichts Neues.

Die Zusammenführung: «The Defenders»


Nach drei von vier Netflix-Serien hätte man dem Franchise bei Netflix wohl eine glorreiche Zukunft bescheinigt. Dass ausgerechnet kurz vor dem Start von «The Defenders», das zum Serien-Pendant der «Avengers» avancieren sollte, «Iron Fist» die vorher hochgehaltene Qualität nicht ebenfalls erreichte, stellte angesichts der Tatsache, dass große Teile von «The Defenders» auf dem Material der «Iron Fist»-Einzelserie basierte, eine aus Netflix-Sicht sehr unglückliche Entwicklung dar. Der Zusammenschluss von «Daredevil», «Jessica Jones», «Luke Cage» und «Iron Fist», die in «The Defenders» gemeinsame Sache machen, um die mächtige Geheimorganisation „Die Hand“ zur Strecke zu bringen, bedeutete aber auch ohne den Fehlschlag «Iron Fists» eine Mammutaufgabe.

Dass es sich «The Defenders» durchgängig zur Aufgabe machte, auf Details der Einzelserien aufzubauen, Insider-Witze daraus zu bemühen und altbekannte Figuren wieder auftauchen zu lassen, machte das Format von Anfang an sogar für Zuschauer recht sperrig, die nur eine von vier Serien verpassten. Zugleich verfügten die verschiedenen Serien zuvor bewusst über ihren ganz individuellen Stil, der nun ihn «The Defenders» sinnig zu eine neuen Ganzen vermengt werden sollte. Obwohl alle Helden in ihren eigenen Formaten in New York agierten, lebten sie aber doch in ihren ganz eigenen Welten. Diese prallten in «The Defenders» häufig unvereinbar aufeinander.

«The Defenders» verlangt seinem Publikum viel Vorwissen und auch Geduld ab, denn es dauert bis die vier «Defenders» zusammen auf der Bildfläche erscheinen. Obwohl bei derart vielen Figuren große charakterliche Entwicklungen, weite Schritte auf der Heldenreise und Erklärungen für Motivationen einzelner Figuren teilweise auf der Strecke bleiben, erreichte «The Defenders» seine ambitionierten Ziele letztlich doch in zufriedenstellender Art und Weise und lieferte damit eine vielversprechende Brücke für weitere Auftritte der Serienhelden. Während die vorangegangen Serien ausschließlich über 13 Ausgaben verfügten, die die Staffeln fast in allen Fällen unnötig in die Länge zogen, enthielten die acht Episoden von «The Defenders» inspirierendere Bilder, geistreichere Dialoge und kurzweiligere Action, die die Stärken der Einzelserien betonen und besonders die Frauenfiguren großartig in Szene setzen.

Die große Gefahr: Disney


Die Marvel-Serien auf Netflix fungieren als Zuschauermagneten prächtig, daran bestand schon vor «The Defenders» kein Zweifel, denn die vier Marvel-Staffeln, die zu «The Defenders» hinführten - die zweite Staffel «Daredevil», «Jessica Jones», «Luke Cage» und «Iron Fist» – fanden sich allesamt in den Top Fünf der Netflix-Formate mit den meisten Abrufen innerhalb von 30 Tagen nach ihrem Erscheinen. Indem Netflix das erzählerisch herausfordernde «The Defenders» sehenswert schulterte, wurde das Franchise auch inhaltlich wieder in die richtigen Bahnen gelenkt. All dies könnte jedoch bald nichts mehr nützen, denn Netflix läuft Gefahr, seine Marvel-Serien auf lange Sicht zu verlieren.

Der Disney-Konzern kündigte unlängst für 2019 einen eigenen Streaming-Dienst an. Um Exklusivität zu gewährleisten, zieht das Unternehmen im Rahmen dessen populäre Disney-Titel von Konkurrenz-Plattformen wie Netflix oder Amazon Prime ab. Die Disney-Produktionen umfassen längst nicht mehr nur Kinderfilme oder -serien, sondern auch beliebte Franchises wie Star Wars – und Marvel. Zwar äußerte sich Disney noch nicht final dazu, was mit den Marvel-Serien passieren wird, die in den vergangenen Jahren als Netflix-Original erschienen, es ist jedoch davon auszugehen, dass sich Disney eher darum bemühen wird, Netflix zu schwächen als dem Streaming-Markführer noch mehr Material zu liefern. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass derzeitige Schätzungen, wie viele Abonnenten ein Disney-Angebot bräuchte, um schwarze Zahlen zu schreiben, sich auf anspruchsvolle 30 Millionen belaufen.

Was genau in den Lizensierungsverträgen zwischen Netflix und Marvel geschrieben steht, wissen aktuell jedoch nur die beiden Parteien, weshalb es möglich sein könnte, dass Disney bis auf unbestimmte Zeit gar keinen Zugriff auf Netflix‘ Marvel-Serien hat. Zudem könnte Disney den Reputationsgewinn, den Marvel durch Netflix erhält, das schließlich auch alle Marvel-Serien intensiv bewarb, über den kurzfristigen Erfolg seines neuen Streaming-Diensts stellen und daher die Beziehungen mit Netflix aufrechterhalten. Dennoch: Die Zukunft der Marvel-Serien bei Netflix ist trotz Erfolg und Qualität ungewiss und das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vergesst die Comicbuch-Bösewichte, Netflix‘ Marvel-Helden sehen sich mit Disney ihrer bislang größten Bedrohung ausgesetzt!
09.11.2017 12:00 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/96911