Die glorreichen 6 – Filme zur Lage der Nation (Teil III)

Denken wir an Deutschland in der Nacht, sind wir um den Schlaf gebracht: Unsere Filmredaktion hat sechs Produktionen ausgesucht, die Bände über den Geisteszustand der Bundesrepublik sprechen. Dramatisch und einfühlsam: «In den Gängen».

Die Handlung


Filmfacts: «In den Gängen»

  • Regie: Thomas Stuber
  • Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber
  • Darsteller: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Andreas Leupold, Michael Specht, Ramona Kunze-Libnow, Henning Peker, Steffen Scheumann, Matthias Brenner, Gerdy Zint
  • Produktion: Jochen Laube, Fabian Maubach
  • Kamera: Peter Matjasko
  • Schnitt: Kaya Inan
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
  • Laufzeit: 125 Min
  • FSK: ab 12 Jahren
Der vorbestrafte und wortkarge Christian (Franz Rogowski) gelangt an eine neue Stelle: Er arbeitet zur Probe in einem abgelegenen Großmarkt irgendwo in der ostdeutschen Provinz. Eine der Bedingungen ist, dass er seine Tätowierungen abdeckt, weil die Kundschaft nur ungern Tattoos sehen würde. Angelernt wird Christian von Bruno (Peter Kurth) aus der Getränkeabteilung, der den Frischling prompt in bestimmten, wenigen Worten in die Eigenheiten des Großmarkt-Arbeiterlebens einführt. So herrschen unter den einzelnen Abteilungen klar abgesteckte Allianzen und Feindschaften. Getränke kommen mit Süßwaren klar, andere Gebiete sind den Getränken gegenüber missgünstig eingestellt, und wie überall gibt es auch im Markt eine Einzelkämpfer-Fraktion …

Zeit für Freundschaften oder gar Zärtlichkeiten ist derweil keine gegeben: Die Arbeit beginnt vor Morgengrauen und endet nach Sonnenuntergang, unentwegt muss etwas umgeräumt, weggeräumt, aufgeräumt, aufgefüllt, sortiert oder weggeworfen werden. Dabei gibt es ein großes Tabu: Es ist strengstens untersagt, sich Wegwerfware einzustecken oder Lebensmittel, die abgelaufen sind, zu essen, statt sie ordnungsgemäß zu entsorgen. Kommunikation beschränkt sich während der Schufterei auf das Nötigste, da die niedrig entlohnten Arbeitskräfte allesamt ihr eigenes emotionales Päckchen zu tragen haben und niemandem ihre Schwächen zeigen wollen …



Die glorreichen Aspekte


Basierend auf einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer erzählt Regisseur und Autor Thomas Stuber («Herbert») in «In den Gängen» auf nuancierte, einfühlsame Weise von einem trostlosen, kargen Leben der Widersprüche: Vor der Kulisse eines sowohl technisch als auch hinsichtlich der Innenausstattung verstaubten Konsumtempels dreht sich alles um das Leben jener, die vom freien Markt an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Zwischen den Großmarktregalen tummeln sich Ex-Knackis, Menschen, die aufgrund ihrer niedrigen Qualifikationen gezwungen sind, für immer Geringverdienende zu bleiben, und apolitische, einfach gestrickte Menschen, denen es in den geordneten Strukturen der DDR gut ging – und die sich nie an das BRD-Leben gewöhnt haben.

Stuber nähert sich seinen Figuren vorurteilsfrei und ohne Häme: Im Gegensatz zu den Sozialreportagen, die «Finsterworld» kritisch angeht, verfällt dieses ruhige, unaufgeregte Drama nicht der Illusion, es sei bereits aussagekräftig, willkürlich Momente eines unspektakulären Alltags aneinanderzureihen und auf den inneren "Oh, das ist aber so traurig, wie es diesen Leuten geht"-Kommentar des Publikums zu warten. Stuber nähert sich seinem Milieu zärtlich und mit kühler Poesie, und gibt ihm somit zum Ausgleich für den präzisen, deprimierenden Blick auf die tragischen Aspekte seines Alltags verdiente Würde zurück.

So tanzen die Gabelstapler zu klassischer Musik Ballett, und ein flüchtiger Augenblick der Menschlichkeit im leblosen Pausenraum weckt Inselurlaubserinnerungen. Diese lyrischen, "emotionale Wahrheiten" aussprechende Momente halten sich die Waage mit Augenblicken der ungeschönten Tristesse – etwa, wenn Christian vor Tageseinbruch zur Arbeit muss und lange nach Sonnenuntergang allein in der Kälte auf den letzten Bus wartet, um nach Hause zu kommen.

Auch wenn ausgerechnet der Konsumtempel Großmarkt in diesem Film zu einer Art Mini-DDR wird, in der es starre Regeln gibt und eine strenge Überwachung vorherrscht, ist «In den Gängen» nicht ausschließlich eine Parabel auf frühere ostdeutsche Verhältnisse und ihre weiterhin spürbaren Überreste. Es ist auch ein Film über die Dilemmata solcher Aussteiger wie Christian, der mit seiner kriminellen Vergangenheit abschließen möchte, jedoch keine nennenswerten beruflichen Chancen bekommt und in seinem neuen Job stets Konfrontationen mit seinem früheren Umgang zu befürchten hat.

Und es ist, in groben Pinselstrichen, ein filmisches Statement über die Arbeitsfixierung der Deutschen: In einigen sozialen Schichten definieren wir uns allein durch unseren Beruf, alles, was darüber hinausragt, wird nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt, als spreche man von Unerhörtem. «In den Gängen» wird dem nicht nur in den Dialogen und dem Verhalten seiner Figuren gerecht, sondern auch dadurch, dass sich der Film zu großen Teilen nur im Großmarkt abspielt. Szenen mit anderen Schauplätzen sind umso befremdlicher, was die Bildsprache unterstreicht, sind die eigenen vier Wände der Figuren doch entweder bedrückend leer, erdrückend überfrachtet oder irritierend prächtig.

Geprägt vom berührenden, facettenreichen Spiel Franz Rogowskis, Sandra Hüllers und Peter Kurths ist «In den Gängen» unterm Strich ein wunderbar unaufgeregter, sensibler Film über unglückliche Lebenssituationen, die Fiktion und Journalismus sonst sensationalisieren. Und er nimmt sich einem Milieu an, dessen Sorgen mittlerweile von hasserfüllten Populisten instrumentalisiert werden – umso wichtiger, wenn ein Film als Gegengewicht mit Empathie und Verstand an diese Lebenswelt heranrückt.

«In den Gängen» erscheint am 1. November 2018 auf DVD und Blu-ray.
07.10.2018 12:38 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/104222