TV-Dystopie 2028: Ein Blick in die Glaskugel

Mehr Angebote, mehr Streaming. Digitaler und demografischer Wandel und ein Umdenken bei Medienkonzernen. Wie sieht der Fernsehalltag in zehn Jahren aus? Eine (dystopische) Vision.

Hinter dem Artikel:

Wie sieht das Fernsehen der Zukunft aus? Diese Frage versuchen Fernsehmacher aller Welt möglichst treffsicher zu antizipieren. Denn fest steht: Immer mehr digitale Angebote graben dem linearen TV das Wasser ab. Ein Umdenken muss stattfinden. Wie die Fernsehlandschaft und die TV-Nutzung in zehn Jahren aussehen könnte, versucht dieser nicht immer ernst gemeinte Beitrag vorauszusehen.
Aufstehen, Zähne lasern, Home Office. Dass sich der Alltag im Jahr 2028 so sehr von dem im vorigen Jahrtausend unterscheiden würde, kann mein Vater immer noch nicht fassen, aber immerhin spare ich mir den Weg von der Wohnung ins Büro – auch die Umwelt dankt es mir. Der direkte menschliche Kontakt hat zwar nachgelassen, dafür rede ich jetzt mehr. Mit den immer menschlicheren KIs Alexa und Siri oder mit Kollegen und Freunden über die rasant gewachsene Zahl an Video-Chats. Eines hat sich nicht geändert: Die Arbeit schlaucht nach wie vor. Immerhin mehrten sich die Mittel der Wahl, um sich von selbiger zu erholen.

Auch hier wird der Generationen-Unterschied im Dialog mit meinem Vater spürbar. Während er mir zu unserem sonntägigen Tablet-Telefonat die Ereignisse der 21. Staffel «Let’s Dance» schildert, wirken die drei Buchstaben, die er immer wieder nennt, wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit: RTL. Das verbinde ich mit dem alten, linearen Fernsehen, wie wir es früher kannten. Mit Shows am Samstagabend wie «Wetten, dass…?», das ich als Kind im Schlafanzug bis spätabends verfolgen durfte, ausnahmsweise. Oder mit dem zweiwöchigen Social-Media-Gejohle, das Formate wie «Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!» stets begleitete.

Fernsehen für die Alten, Streaming für die Jungen


Freilich, dieses Fernsehen gibt es irgendwie schon immer noch. Unbeirrt versenden die öffentlich-rechtlichen Schlagershows am Samstag oder den «Tatort» am Sonntag. Weiterhin finden die linearen Programme auch viele Zuschauer - oder zumindest einige, vorwiegend alte Zuschauer, die dafür sehr viel schauen. Das zeigt sich an den Statistiken zur Fernsehnutzung. Seit 2018 hat sich die durchschnittliche TV-Nutzung von 221 Minuten laut AGF kaum verändert. Doch die Zahlen trügen und das hat vor allem mit dem demografischen Wandel zu tun. Knapp 80 Millionen Deutsche, aber viel mehr Menschen über 60 Jahren, ließen die einst von Helmut Thoma propagierte werberelevante Zielgruppe zwischen 14 und 49 Jahren gehörig schrumpfen.

Einige Sender versuchten diese Zielgruppe neu zu definieren, doch so richtig durchsetzen konnte sich damit keiner. Das hatte Folgen für die Fernsehlandschaft. Seit Jahren sucht man im linearen Fernsehen vergeblich nach Innovationen. Ein verstaubtes Image und das Abwandern großer Teile der Werbung ins Internet ließ die Medienkonzerne ihre Prioritäten neu verteilen. Hinsichtlich audiovisueller Unterhaltungsangebote teilt sich die Gesellschaft 2028 in zwei Teile. Den Alten gehört das lineare Fernsehen, weshalb die dortigen Werbepausen den Best Agern und Senioren die neuste Helene Fischer-Platte ans Herz legen, Kreuzfahrten oder Arzneien und Medikamente durch die Ratiopharm-Drillinge (ja, mittlerweile sind es schon drei).

Streaming-Umbruch der Etablierten


Zwei Drittel aller Deutschen nutzen mittlerweile Streaming-Angebote, knapp die Hälfte der Bevölkerung sieht lineares Fernsehen nur noch in Ausnahmefällen, etwa wenn Miroslav Kloses DFB-Auswahl wieder um einen großen Titel kämpft. Aber was schaut sie denn dann, die werberelevante Zielgruppe? Früh übt sich, deswegen stellen Netflix und Amazons Prime Video nach wie vor die Vorreiter in Sachen Abonnements dar. Von fünf Millionen Abos vor zehn Jahren schraubte sich die Zahl der deutschen Netflix-Kunden auf 15 Millionen hinauf, auch weil der Streaming-Dienst mittlerweile über die Ressourcen und die daraus resultierende Bandbreite an Formaten verfügt, die jedes weitere Angebot fast überflüssig machen.

Besonders der Sportmarkt verlieh Amazon und Netflix neue Argumente. Ein Drittel aller Bundesliga-Spiele im Fußball überträgt mittlerweile Amazon, der Rest läuft bei Sky-DAZN, die sich auch weiter die Champions League teilen. Durch weitere Kooperationen und neue Vermarktungsmodelle sind unterdessen bei Netflix vor allem hochqualitative Dokus über des Deutschen liebsten Sports zu sehen. Die fünf größten Bundesliga-Verein haben alle ihr eigenes Format, das Zuschauer hinter die Kulissen blicken lässt.

Auch die etablierten Privatsender von damals verschrieben sich dem digitalen Wandel, dem die Öffentlich-Rechtlichen noch immer mit viel Mühe hinterherhängen. Ab 2020 investierten die RTL-Gruppe und ProSiebenSat.1 massiv in exklusive Online-Formate. Mittlerweile bietet TVNow eine ordentliche Palette eigenproduzierter Serien und gegen eine Gebühr auch uneingeschränkten Zugriff auf frühere Formate des Senders. Gerade für Serienjunkies bietet TVNow gegenüber Netflix jedoch noch längst keine ebenbürtige Alternative. Im linearen Fernsehen hielten sich vor allem die Reality- und Kuppel-Formate über Wasser, zum Beispiel mit den Crossover-Formaten «Bauer in Paradise» oder dem «Schwiegertochter gesucht»-Special von «Adam sucht Eva». Und tagsüber: Natürlich Scripted Realities, die ziehen noch immer.

Einen wichtigen Grundstein legte auch ProSiebenSat.1 im Jahr 2018, als der Konzern ein Joint Venture mit Discovery gründete und sein eigenes Streaming-Angebot aufbaute. Schnell schlossen sich weitere Medienunternehmen an, doch das Problem blieben vorerst die Eigenproduktionen. Zu sehr fixierte sich der Dienst zunächst noch auf US- und andere Lizenz-Formate. Doch spätestens ab 2023 griffen ProSiebenSat.1 und Discovery so richtig an, als Til Schweiger in der Originalserie «Being Til Schweiger» einen selbstverliebten, gefallenen Filmstar spielte und damit den Startschuss für eine Serien-Offensive setzte. Die Schweiger-Serie stieg sogleich zur zweiterfolgreichsten Serie des Angebots aller Zeiten auf – gleich nach dem dritten Spin-Off von «The Big Bang Theory». Spannend: Derzeit befinden sich ProSiebenSat.1, Discovery und die RTL-Gruppe in Gesprächen. Schon bald könnten sie gemeinsame Sache machen, um Netflix die Stirn zu bieten.

Die Diversifizierung erdrückt den Nutzer


Langsam berappelt sich auch wieder YouTube. Als die große Influencer-Blase platzte und YouTube Red noch nicht den großen Hunger auf fiktionale Stoffe stillen konnte, musste die Video-Plattform umdenken. Bei Menschen bis 14 Jahren stellt YouTube zwar immer noch den Marktführer dar, der Umbruch zu einem ernstzunehmenden Anbieter von Qualitätsfernsehen gelang dem Unternehmen jedoch nicht wirklich. Besser schlug sich da schon Apple, das vor allem auf Exklusivität setzt. Noch finden sich nicht allzu viele Eigenproduktionen im Dienst des US-Konzerns, dafür lockt dieser mit den ganz großen Stars. Bei Familien steht derweil Disneys Streaming-Dienst an der Spitze, der neben der großen Anzahl an Animationsfilmen und -Serien auch mit «Star Wars» oder den Marvel-Filmen lockt.

Zugegeben, so richtig erholsam ist der Feierabend dann doch nicht. Bei all den Möglichkeiten, die sich mir in Sachen Fernsehen mittlerweile bieten, fängt mein Schädel an zu brummen. Wer soll das denn alles schauen? Die Serien, von denen mir meine Freunde schon seit Monaten vorschwärmen, habe ich in den Mediatheken häufig gar nicht schnell genug gefunden. Ohnehin sieht mittlerweile sowieso jeder etwas anderes an. Hitserien wie «Game of Thrones», die früher gefühlt jeder verfolgte, gehören damit der Vergangenheit an. Was soll das Abendprogramm denn nun werden? Netflix, Prime Video, TVNow, Apple, Disney, YouTube, ProSiebenSat.1-Discovery oder - ganz verrückt - doch mal wieder linear einschalten? Mir wird das alles zu viel, wenn die Auswahl eines Programms schon länger dauert als dessen Laufzeit. Triumphierend schließe ich meine Streaming-Apps und schlage ein Buch auf… Na gut, ein E-Book.
30.06.2018 11:32 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/101966