Nicht die Talkshow ist pervers, sondern die pseudojournalistische Einstellung, die sie auslebt

Die Forderung nach einer einjährigen Talkshowpause im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird immer größer. Dabei würde die zu wenig bewegen. Was es braucht, ist eine generelle Neuausrichtung der Themensuche.

Bei Facebook und Twitter taucht nicht nur die Forderung, einfach mal ein Jahr lang die öffentlich-rechtlichen Talkshows verstummen zu lassen, immer häufiger auf. Vom öffentlichen Politdiskurs frustrierte, junge Erwachsene kramen mit steigendem Wachstum zudem eine journalistische Grundlektion hervor, die sie (oder Bekannte eines Bekannten einer Verwandten) im Studium hatten – und die sie in vielen Publikationen heutzutage vermissen würden. Es gibt viele Abwandlungen dieser grundlegenden Lektion, doch im Groben verlaufen sie alle so: "Journalismus bedeutet: Wenn ein Mensch sagt, dass es draußen regnet, und die andere Person sagt, dass es draußen trocken sei, dann ist es nicht dein Job, beide zu zitieren. Dein Job ist es, vor die Tür zu gehen und nachzuschauen, wer richtig liegt."

Eben diese simple Regel haben nicht nur die Julian Reichelts dieser Bundesrepublik verlernt, sondern auch die Redaktionen hinter den öffentlich-rechtlichen Talkshows. Zugegeben: Das Genre der Talkshow diktiert vor, dass bei «Anne Will», «hart aber fair», «maybrit illner» und «Maischberger» Diskussionen geführt werden. Das liegt in der Natur der Talkshow, doch das muss nicht bedeuten, dass dieses Sendungskonzept von vornherein unjournalistisch sein muss. Allerdings ist es zu einem hoch unjournalistischem Genre verkommen, das sich aber mit der Autorität der «Tagesschau» verkauft. Und darin liegt das grundlegende, massive Problem, das bei vielen politisch aufgeweckten Fernsehenden zur scheinbar unüberwindbaren Talkshowunlust geführt hat.

Öffentlich-rechtliche, meinungsbildende Politsendungen, die nicht aus dem Fenster starren


Denn bei «Anne Will», «hart aber fair», «maybrit illner» und «Maischberger» wird oftmals etwas zu Tode diskutiert, das sich einfach nachschlagen ließe. Und das ist unfassbar nachlässig, wenn nicht sogar gefährlich. Wenn es draußen regnet, in einer Talkshow aber sowohl eine Person zu Wort kommt, die von dieser Überzeugung ist, als auch jemand, der das Gegenteil behauptet, führt das zu folgendem: Es wird Menschen geben, die an der Glotze hängen, hören, dass wer im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sagt, dass der Regenbericht eine Lüge ist, und diesen Gedanken übernehmen. Der Mann klingt überzeugend, diese Person, die von Regen labert, wirkt sowieso arrogant, was kann die schon?

Und schon haben die Talkshows in ihrem Wahn, "beide Seiten zu Wort kommen lassen zu müssen", einen widerlegbaren Fehlglauben propagiert. Bloß, dass die Talkshows heiklere Themen anfassen als den jüngsten Wetterbericht. Wenn bei «Anne Will» das Thema "Die Bremer Asyl-Affäre - Systemfehler oder Einzelfall?" (27. Mai 2018) lautet, dann wird über eine Frage schwadroniert, der sich eigentlich ein Rechercheteam annehmen müsste, um daraufhin einen Artikel oder TV-Beitrag mit der Antwort zu präsentieren. Stattdessen geben Will und ihre Redaktion so einmal mehr den Rechten eine Plattform, wodurch sie Ängste über die angeblich so bösen, schmarotzenden Immigranten schüren können. So muss Monate später die 'taz' mit den Fakten ankommen und aufdröseln, dass der vermeintliche Skandal ein statistisch lachhafter Schluckauf war. Schlägt halt nur kleinere Wellen als ein öffentlich-rechtlicher Polittalk.

Noch unverhohlener in seinem die politische Stimmung in Deutschland verpestenden Sensationalismus ist «hart aber fair» mit Ausgaben wie "Flüchtlinge und Kriminalität – Die Diskussion" (4. Juni 2018). Ein Thema, bei dem es nach dem journalistischen Grundsatz eigentlich nichts zu diskutieren geben dürfte: Die AfD und weite Teile der CSU behaupten, durch Flüchtlinge steige die Kriminalität in der Bundesrepublik, zahlreiche andere Politiker sagen das Gegenteil – und ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik würde aus einem spekulativen Talkshowthema eine «Tagesschau»-Meldung machen: Wir leben in Deutschland so sicher wie seit 1992 nicht mehr, und die Zuwandererkriminalität sank 2017 deutlich stärker als die Kriminalität Deutscher. «maybrit illner» versuchte es kurz zuvor, am 31. Mai 2018, sogar mit der Suggestivfrage "Chaos beim Asyl – warum hat der Staat versagt?". Ungeheuerlich …

Die Beispiele ließen sich schier endlos fortsetzen. Am 11. Oktober 2017 verstieß «Maischberger» sogar nahezu wortwörtlich gegen das obige Lehrbeispiel und fragte allen ernstes: "Xavier und die Wetterextreme: Kippt unser Klima?" Wie zahllose Studien der vergangenen Jahrzehnte belegen, lautet die Antwort: Ja! Ja, unser Klima wandelt sich drastisch, und daher sollten wir aufhören, uns zu fragen, ob wir uns den Klimawandel vielleicht doch nur einbilden, und lieber über Lösungen diskutieren.

Frag nicht, ob es gerade regnet; frag, was wir morgen vorhaben, sollte es regnen


Genau dort findet sich die Antwort auf die große Talkshowproblematik Deutschlands: Die Polittalkshows müssen weg von Debatten über Dinge, die sich mit einem (sprichwörtlichen) Schritt vor die Tür beantworten ließen. Wollen Talkshowredaktionen die berechtigte Kritik an ihrer Themenwahl abschütteln und nicht weiter gegen das "Regenprinzip" verstoßen, müssen sie sich von ihrer getarnten Krawalligkeit lösen und Themen anpacken, deren genüsslich ignorierte Antwort nicht vor der Tür liegt. Statt zu debattieren, ob es gerade regnet oder nicht, muss der Austausch über weniger greifbare Fragen gesucht werden. Das mag auf dem ersten Blick weniger Aufmerksamkeit erhaschen und fordert, will man es richtig umsetzen, mehr redaktionelle Vorbereitungszeit. Doch es würde dem Genre der Talkshow endlich (wieder) eine Daseinsberechtigung verleihen.

Das ewig Konträre einer Talkshow ist lachhaft. Lädt man eine Partei ein, die die Wahrheit ausspricht und eine, die sie verleugnet, und klopft sich dann auf die Schulter, brav Pluralismus betrieben zu haben, ist das Unfug. Sinnvollen Pluralismus erreicht man im politischen Diskurs nur selten dadurch, dass man die eingeladenen Diskutanten fragt, was sie denken, wie die Gegenwart aussieht, und sich derweil die Recherchearbeit über den realen Zustand erspart. Man muss in solch einem Forum wie einer Talkshow den Gästen Fragen stellen, die sich nicht mit Wissen oder Wahrheitsverdreherei beantworten lassen, sondern bloß mit Einschätzungen und Lösungsansätzen. Und die Aufgabe der Redaktion sollte es sein, diesen Einschätzungen durch vorab recherchierte Fakten in Kontext zu setzen.

Statt zu fragen "Akte Özil – Gibt es Rassismus in Deutschland?" (Antwort: "Ja, oder wollen wir uns ernsthaft einreden, dies sei das Paradies auf Erden?"), sollte die Frage lauten: "Wie verringern wir den Rassismus in Deutschland?" Keine Talkshow sollte zum Thema haben "Mietpreise, Maklerstress, Migration – Wird Wohnraum etwa teurer?" (Antwort: "Ja, und zieh nicht schon wieder die Migranten in deine Quotengeilheit rein, verdammt!"), viel mehr sollte der Aufhänger sein: "Wie wird der Wohnraum wieder bezahlbarer?" Keine Talkshowmoderatorin und kein Talkshowmoderator sollte die Frage stellen: "Netter Flirt oder doch Belästigung – Haben wir ein Sexismusproblem?" ("Ja, haben wir!"). Und ebenso wenig darf gefragt werden, ob der Klimawandel existiert. Er existiert, und je eher wir uns das eingestehen, desto schneller können wir nach Lösungen suchen, die großflächig umsetzbar sind. Auch im Fernsehen. Denn eine Talkshow sollte dazu da sein, über Auswege zu diskutieren!

Dann können sich die politinteressierten Fernsehenden ein Bild davon machen, von welchen Seiten aus die in ihren Augen sinnigsten Lösungsvorschläge kommen – im Idealfall abgeglichen durch die Kommentare der Talkshowschaffenden, die parallel zur Diskussion Faktencheck betreiben. Das sollte ja wohl durch die Bank weg möglich sein – einer mehrfach prämierten, fähigen Journalistin wie Anne Will würde das definitiv besser zu Gesicht stehen als der irrgeführte Meinungspluralismus, den sie regelmäßig über den Äther schickt. «hart aber fair» wiederum tut bereits so, als sei dies das Konzept der Sendung, allerdings sind die vermeintlichen Fakteneinspieler klar als stur vorbereitete, zur Eskalation der Diskussion gedachte, höchst selektive Streitelemente zu erkennen. Es ist Dunja Hayali, die mit ihrer gleichnamigen ZDF-Talkshow am ehesten den richtigen Weg geht, flankiert sie doch Talkthemen mit investigativen Beiträgen. Das sollte sich die Talkshowrepublik zum Vorbild nehmen – und weiter ausbauen.

Die Rückkehr-Termine der Talkshows

  • «Anne Will»: Sonntag, 19. August, 21.45 Uhr (Das Erste)
  • «maybrit illner»: Donnerstag, 23. August, 22.15 Uhr (ZDF)
  • «hart aber fair»: Montag, 27. August, 21 Uhr (Das Erste)
  • «Maischberger»: Unbekannt (Das Erste)
Zweifelsohne: Es erfordert Mühe und Kosten, eine bestens vorbereitete Redaktion bereitzustellen, die sich einschaltet, wenn die Diskutierenden in ihren Erläuterungen, wie sie bestehende Probleme lösen würden, aus Versehen oder bewusst Zahlen verdrehen. Aber das sollte es uns und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk wert sein. Denn je eher Talkshows aufhören, Brandherde entstehen und eskalieren zu lassen, und je eher sie dazu dienen, Probleme anzupacken – umso früher können wir aufhören, uns über Talkshows Sorgen zu machen. Dann hätten wir vielleicht auch wieder Zeit und Energie, selber mal nachzugucken, wie das Wetter da draußen eigentlich ist.
12.08.2018 13:05 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/102985