Serientäter

«Élite» Staffel 2: Von denen, die glauben, dass ihnen die Welt gehört … und doch so sind wie du und ich

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Auch in der zweiten Season des spanischen Netflix-Hits wird Langeweile klein- und originelle, die Grenzen des Genres „Teenie-Soap" auslotende Unterhaltung großgeschrieben.

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Weil sie diese Erfahrung allerdings augenscheinlich noch nie in einer unschuldig-echten Weise hat machen dürfen, ersetzt sie sie durch Kontrolle. So sind ihr Christian (Miguel Herrán) – immerhin temporär – und Polo (Álvaro Rico) – im Grunde durchgängig – fast schon hörig – selbstredend nicht einfach so: Carla beruft sich regelmäßig auf die vielzitierten „Waffen einer Frau“, wobei sie sich bei deren Einsatz nahezu nie in irgendeiner Form zurückhält. Unter anderem deshalb ist es so spannend, dass die Macher sie vor die große Herausforderung „Samuel“ stellen, das Ergebnis: Hochgradig innovative Szenen, in denen immer wieder aufs Neue die Frage verhandelt wird, wer gerade die Oberhand hat. Und dieser Umstand hat auf den Zuseher einen weiteren Effekt: Während der eigentlich so anständige Schüler in Season 1 noch am ehesten als Protagonist hätte bezeichnet werden können, versteht sich die zweite endgültig als Ensemble-Serie, die sehr darum bemüht ist, all ihren starken Figuren ähnlich viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Dies führt neben der eben beschriebenen zu mehreren interessanten Zweierkonstellationen, und bei zweien davon bietet es sich an, sie im Vergleich zu beleuchten: In den Episoden 1 bis 8 wurde schon angedeutet, wo die Reise hingehen könnte und in den neuesten 8 begleiten wir Nadia (Mina El Hammani) und ihren Bruder Omar (Omar Ayuso) sowie die besten Freunde Guzmán (Miguel Bernardeau) und Ander (Arón Piper) auf ihrem nicht immer unkomplizierten Weg aufeinander zu. Die Geschwister müssen mehr als alle anderen Charaktere damit zurechtkommen, dass ihre Familie bestimmte Erwartungen an sie hat, die aus ihrem Glauben und ihrer Kultur resultieren. Während Nadia sehr lange versucht, diesen zu entsprechen und sich dabei enorm viel abverlangt, muss Omar lernen, mit den Konsequenzen zu leben, die es mit sich bringt, wenn herauskommt, dass man viel zu lange nur vorgegeben hat, derjenige zu sein, den die eigenen sehr religiösen Eltern zumindest akzeptieren können. Die Menschen, für die sie viel empfinden, sind – wie bereits angesprochen – Guzmán und Ander. Die Welt von Ersterem liegt nach der Ermordung seiner Schwester verständlicherweise in Trümmern und der Schmerz quält ihn tagtäglich. Lange versucht er, ihn mithilfe von Rauschmitteln zu betäuben, doch die Klassenbeste kann das nicht mit ansehen und ist – wie so häufig – die Einzige, die ihm die Wahrheit ins Gesicht sagt und gleichzeitig mehr und mehr ihr Herz öffnet.

Dieser Prozess des Sich-Annäherns, ohne dass dabei gängige Klischees bedient werden, steht gewissermaßen exemplarisch für das schon erwähnte doppelte „U“ und eine Authentizität, wie man sie selten in ähnlichen Formaten findet. «Riverdale» lebt etwa von dem Extrem, der Überzeichnung, den teilweise schon fast absurden Handlungsverläufen – nicht falsch verstehen: Die Mischung funktioniert und überzeugt, weil sie stimmig und originell ist. «Gossip Girl» praktizierte ein ähnliches Konzept nahezu ausschließlich in der Welt der Schönen und Reichen, wobei das Format weit weniger hektisch ist, und sich mehr auf den Dreiklang „Liebe, Luxus und Intrigen“ fokussiert. Die sehr „außergewöhnlichen“ Protagonisten wie Archie Andrews (K.J. Apa) und Betty Cooper (Lili Reinhart) oder Blair Waldorf (Leighton Meester) und Chuck Bass (Ed Westwick) haben – so kann man es eventuell zusammenfassen – nicht umsonst Kultstatus erreicht. In «Élite» dagegen sind zwar ebenfalls fast alle Handelnden reich, und ja, sicherlich ist es eher ungewöhnlich, dass eine Schulklasse – gefühlt ohne Unterbrechung – Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen ist und verhört werden muss, davon abgesehen ist die Serie im Kern jedoch viel geerdeter, viel ruhiger und dadurch viel nahbarer. Kameramänner und Cutter haben daran mit Sicherheit einen nicht gerade kleinen Anteil, da es nur wenige ruckartige Schwenks gibt und es nur selten zu Hochgeschwindigkeitsschnitten kommt. Es wird sich vielmehr auf das Abbilden des zu Sehenden beschränkt, dieses weder überhöht noch dramatisiert oder verharmlost, es wird sozusagen schlicht zur Kenntnis genommen, was gleichzeitig das sonnige, für den Großteil des mutmaßlich eher nicht an spanische Schauplätze gewöhnten Publikums höchstwahrscheinlich sehr unverbraucht und frisch anmutende Setting gleichzeitig recht kalt wirken lässt.

Dieser Kälte, die natürlich ebenfalls Teil eines von viel Oberflächlichkeit, Schein und einer Kultur des Lügens der hier präsentierten Oberschicht geprägten Lebens ist, steht in Staffel 2 nun viel deutlicher als in der ersten die Hauptmotivation aller Protagonisten gegenüber: der Liebe. Und dass jede der so unterschiedlichen „Liebesgeschichten“ völlig ohne Kitsch auskommt, macht die Serie unter anderem so sehenswert. Omar und Ander sind ein vollkommen ungleiches Paar, und erfinden sich in ihrer ersten echten Beziehung noch einmal als Person vollkommen neu. Dabei ist weit weniger entscheidend, ob hier ein Mann eine Frau oder einen Mann liebt, als die Tatsache, dass es sich immer noch um Teenager handelt, die die altbekannte Frage nach der eigenen Identität umtreibt und die selbst oft gar nicht genau wissen, warum sie gerade wie empfinden. Polo hingegen ist ein Mörder, aber hat dennoch mehr gute Seiten, als man ihm eigentlich zugestehen will und ist vielleicht mehr als alle anderen auf der Suche nach sich selbst. Dass er zwischen Verleugnung und ihn übermannenden Schuldgefühlen ständig hin- und hergerissen ist, macht ihn zweifellos zu einer armen, bemitleidenswerten Seele, andererseits wird der Zuschauer stets noch rechtzeitig an seine Tat erinnert, bevor man ihm vergibt – ein Ausdruck von starkem Storytelling.

In sein Leben wiederum tritt schon bald eine der drei Neuzugänge, mit der man das Ausscheiden der wirklich extrem talentierten Maria Pedraza, die man vermutlich noch in einigen US-Produktionen wird bewundern können, tatsächlich einigermaßen kompensieren konnte und dem Format – auch mit Blick auf kommende Seasons – spannende Perspektiven eröffnet: Da wäre einmal die neureiche Rebeca (Claudia Salas), die mit allen Vorurteilen Neureichen gegenüber aufräumt, obwohl sie sie auf den ersten Blick zu bestätigen scheint. Darüber hinaus kommt noch der irgendwo zwischen völlig kaputt, liebenswert und unberechenbar einzuordnende Halbbruder von Lu (Danna Paola) Valerio an die Elite-Schule unserer „Helden“ - Jorge López spielt den Chaoten, der Jüngeren oder älteren Geschwistern, die gemeinsam mit den Jüngeren einst netterweise «Soy Luna» geschaut haben, bekannt vorkommen dürfte. Und schließlich wird noch Cayetana (Georgina Amorós) eingeführt, die nicht die ist, für die sie zunächst alle halten und damit einerseits wunderbar zu den restlichen Hauptfiguren passt, auf die das in gewisser Hinsicht ebenfalls zutrifft, sich andererseits allerdings deutlich von ihnen unterscheidet.

Denn in «Élite» geht es um jene, die oftmals das Gute wollen und dabei alles nur noch schlimmer machen, bei denen man sich durchaus fragen kann, wie oft der Zweck die Mittel heiligt, die Heuchler sind, und sich insgeheim dafür schämen, die im ersten Moment wie Stereotype wirken, jedoch so viel Tiefgang besitzen und in deren Kosmos oftmals aus Verzweiflung um sich geschlagen wird, weil keiner einen Ausweg weiß sowie zu oft nur gesehen wird, was man sehen möchte. Und dennoch ist es die Serie, die wie wenige andere erklärt, warum in „gemeinsam“ „einsam“ steckt und die diesen Weg vom „Alleine“ hin zum „Zusammen“ eben nicht beschönigt, ihn jedoch auch nicht als unerreichbar präsentiert.

Die zweite Staffel von «Élite» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.

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