Und sonst so? Vier Filme, die für die Oscar-Verleihung 2018 wichtig sind

Über die meisten Oscaranwärter dieser Saison hat Quotenmeter.de bereits berichtet. Über die folgenden vier allerdings noch nicht. Zeit, das zu ändern! Welche Chancen die Kandidaten haben und worum es geht, lesen Filmfans bei uns.

«The Florida Project»


Oscar-Nominierungen für «The Florida Project»

  • Bester Nebendarsteller: Willem Dafoe
Nach dem von der Kritik gefeierten, ausschließlich mit dem iPhone gefilmten «Tangerine L.A.» meldet sich Regisseur Sean Baker zurück: In «The Florida Project» beleuchtet er den Subkosmos Quasi-Obdachloser in Florida. Dort, wie in manch anderen hart von den Nachwehen der Wirtschaftskrise gebeutelten US-Regionen, leben meist auch arbeitslose oder zumindest von Job zu Job tingelnde Menschen, die sich keine Wohnung leisten können und daher in Billigmotels einmieten. Die kosten im Monat zwar genauso viel wie ein kleines Apartment, oder gar mehr, lassen sich aber wöchentlich abbezahlen und sind fertig eingerichtet, was bei knapper Kasse vielen wichtiger ist als die Möglichkeit, ein paar Dollar zu sparen.

Nahe Orlando wird dieser ungewöhnlichen Lebenssituation noch bittere Ironie hinzugefügt, fristen diese am Rande der Armut lebenden Leute ihr Dasein doch in farbenfroh-kitschigen Hotels, die mit ihrem bunten Äußeren und ihren albernen Namen versuchen, vollkommen ahnungslose Disney-Touristen anzulocken. Baker erzählt vom Leben in einer dieser Motelanlagen, Magic Castle, aus der Sicht des sechsjährigen Mädchens Moonee (Brooklynn Prince), die sich ihrer deprimierenden Lebensumstände, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft bewusst ist und in ihrer Mutter Halley (Bria Vinaite) eine liebende, wenngleich auch völlig verantwortungslose Mutter hat.



In kräftigen 35mm-Bildern eingefangen und in vielen trostlosen Momenten noch immer eine kindlich-naive Freude finden, ist «The Florida Project» ein deutlich lebensfroherer Film als er angesichts seines Themas Anschein hat. Dies ist vor allem Willem Dafoe zu verdanken, der als nachsichtiger, trotzdem auch nötige Härte zeigender Hotelmanager Bobby für seine Dauergäste eine Art Vater darstellt. Dafoe spielt diese Rolle mit einer ansteckenden Freude, lässt aber durchweg einen leichten Weltschmerz und eine leichte Verzweiflung über die Probleme in seinem Magic Castle durchschimmern, was ihn zur Seele des Films macht.

«I, Tonya»


Oscar-Nominierungen für «I, Tonya»

  • Beste Hauptdarstellerin: Margot Robbie
  • Beste Nebendarstellerin: Allison Janney
  • Bester Schnitt: Tatiana S. Riegel
In. Die. Fresse. Besser lässt sich «I, Tonya» kaum beschreiben: «Lars und die Frauen»-Regisseur Craig Gillespie erzählt nach einem Drehbuch von Steven Rogers («Kate & Leopold») die wahre, viel diskutierte Geschichte der Eiskunstläuferin Tonya Harding. Harding holte sich die US-Meisterschaft im Eiskunstlauf und wurde einmal Weltranglistenzweite, ist jedoch bestens dafür bekannt, was ihrer Rivalin Nancy Kerrigan widerfahren ist: Kerrigan wurde vor den Olympischen Winterspielen 1994 mit einer Eisenstange attackiert. Während sich definitiv zurückverfolgen lässt, dass Hardings Ex-Ehemann und ihr selbsternannter Bodyguard in diesen Vorfall verwickelt sind, ist Hardings Beteiligung an der Planung dieser Attacke umstritten.

«I, Tonya» wird dieser Kontroverse gerecht und fasst das Leben Hardings in einer Biopics dekonstruierenden, ironischen Weise zusammen: Immer wieder brechen die Figuren die filmische Illusion, um ihren Senf dazuzugeben, ob etwas unglaublich erscheinendes ihrer Meinung nach wirklich passiert sei oder nicht. In nachgestellten Interviewsequenzen häufen sich darüber hinaus weitere Widersprüche. Derweil verleihen ein energiereicher Schnitt und eine fetzige Songauswahl dieser kritischen Analyse dessen, was damals denn nun passiert ist, einen intensiven Drive – «I, Tonya» ist sozusagen das uneheliche, eiskunstlaufversessene Kind von «The Big Short» und «Goodfellas».



All dies wird mit einer satirisch-ironischen Attitüde präsentiert – zumindest weitestgehend, denn wann immer Themen wie Doppelmoral oder häusliche Gewalt aufkommen, legt «I, Tonya» jegliche humoristische Distanz zum Geschehen ab, um die volle Tragik solcher Mechanismen spürbar zu machen. Dass dieser sonderbare Clash verschiedener Tonfälle gelingt, ist unter anderem der Verdienst der punktgenauen Schnittarbeit, die den eigenwilligen Flow des Geschehens aufrecht hält, sowie der Performances von Margot Robbie und Allison Janney, die beide mit voller Wucht spielen.

«Lady Bird»


Oscar-Nominierungen für «Lady Bird»

  • Bester Film
  • Beste Regie: Greta Gerwig
  • Beste Hauptdarstellerin: Saoirse Ronan
  • Beste Nebendarstellerin: Laurie Metcalf
  • Bestes Original-Drehbuch: Greta Gerwig
Wie wir es auch schon in unserer Oscar-Prognose geschrieben haben, glauben nicht wenige Insider an einen Überraschungssieg von Greta Gerwigs Coming-of-Age-Tragikomödie «Lady Bird». Der Film sorgte schon vor seinem US-Kinostart (hierzulande bringt Universal Pictures den Film erst im April in die Lichtspielhäuser) für Aufsehen, als er für eine kurze Zeit eine Wertung von 100 Prozent bei den meisten abgegebenen Bewertungen bei Rotten Tomatoes vorweisen konnte. Heute sind es immer noch 99; kein Wunder: «Lady Bird» ist ein Film, den man schlecht hassen kann.

Der Alltag von Christine „Lady Bird“ McPherson (Saoirse Ronan) im kalifornischen Sacramento besteht aus High School-Routine, Familientrouble und ersten ernüchternden Erfahrungen mit Jungs. Kein Wunder also, dass die 17-Jährige davon träumt, flügge zu werden. Im echten Leben rebelliert sie mit Leidenschaft und Dickköpfigkeit gegen die Enge in ihrem Elternhaus. Doch allzu leicht macht ihre Mutter (Laurie Metcalf) dem eigenwillig-aufgeweckten Teenager die Abnabelung natürlich nicht, und so ziehen alle beide zwischen Trotz, Wut und Resignation immer wieder sämtliche Gefühlsregister.



Drehbuchautorin und Regisseurin Greta Gerwig erzählt auf absolut authentische Weise vom Erwachsenwerden einer jungen, selbstbestimmten Frau. Das klingt erst einmal unspektakulär - und genau das ist «Lady Bird» auch. Der Film ist einer von Dutzenden Coming-of-Age-Indieperlen, die jährlich in die Kinos kommen. Unter das sensible Porträt der von Saoirse Ronan mischt die Filmemacherin außerdem eine intensive Liebeserklärung an das kalifornische Städtchen Sacramento, die voller beeindruckender, detailgetreuer Beobachtungen steckt. Doch so lebensecht, authentisch, witzig und charmant «Lady Bird» auch ist: Am Ende fehlt das letzte Fünkchen Besonderheit. Eine ebensolche besitzt dafür der nächste Film, der sich wiederum allein auf dieser Besonderheit ausruhen muss, denn der Rest des Films ist weitaus weniger stimmig.

«Roman J. Israel, Esq.»


Oscar-Nominierungen für «Roman J. Israel, Esq»

  • Bester Hauptdarsteller: Denzel Washington
Ob es sich bei Regisseur Dan Gilroy um ein sogenanntes One-Hit-Wonder handelt, oder ob der «Nightcrawler»-Macher nach der provokanten Tour-de-Force von Jake Gyllenhaal als rücksichtsloser Sensationsjournalist tatsächlich das Zeug zum Dauerbrenner hat, beantwortet seine neueste Arbeit «Roman J. Israel, Esq.» nun nur wenig zufriedenstellend. Der in der Kategorie "Bester Hauptdarsteller" nominierte Gerichtskrimi ist nämlich im besten Sinne durchschnittlich. Doch worum geht es überhaupt?

«Roman J. Israel, Esq.» zeigt die Schattenseiten des überlasteten Strafgerichtssystems von Los Angeles. Der motivierte, idealistische Strafverteidiger Roman J. Israel (Denzel Washinton) versucht, sich darin zurecht zu finden, als sein Leben von heute auf morgen auf den Kopf gestellt wird. Sein Mentor, eine Bürgerrechts-Ikone, stirbt. Als er von einem Unternehmen angestellt wird, das ein ehemaliger Student des legendären Mentors leitet – der ambitionierte Anwalt George Pierce (Colin Farrell) – schließt Roman Freundschaft mit einer jungen Verfechterin für Gleichberechtigung (Carmen Ejogo). Eine Reihe turbulenter Ereignisse sind die Folge, die den Aktivismus, der Romans bisherige Karriere geprägt hat, auf die Probe stellt.



Das Skript zu «Roman J. Israel, Esq.», ebenfalls von Dan Gilroy verfasst, kann dem Genre des Gerichtsfilms wenig Neues hinzufügen. Das wirklich spektakuläre dagegen ist die - im wahrsten Sinne des Wortes - herausragende Performance von Protagonist Denzel Washington, der bereits im vergangenen Jahr für seine Rolle in «Fences» für den Academy Award nominiert war. Mithilfe seines intensiven Spiels gelingt es dem Akteur, aus einem durchschnittlichen einen starken Film zu machen. Unabhängig von der weitestgehend überraschungsarmen, mitunter ein wenig zu langen Inszenierung macht er «Roman J. Israel, Esq.» zu einem echten Erlebnis. Und so kommt es, dass wir heute Abend auch Washington ein klein wenig die Daumen drücken, Favorit Gary Oldman den Oscar streitig zu machen.

Ausführliche Kritiken zu den hier vorgestellten Filmen folgen wie immer pünktlich zum deutschen Kinostart.
04.03.2018 10:00 Uhr  •  Antje Wessels, Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/99419