«9-1-1»: Kampf an allen Fronten

Die neue Serie des «Glee»- und «American-Horror-Story»-Schöpfers sitzt stilistisch zwischen allen Stühlen. Ein gut erzähltes Potpourri oder ein wild durchgewürfelter Mischmasch?

Cast & Crew

Produktion: Reamworks, Brad Falchuk Teley-Vision, Ryan Murphy Television und 20th Century Fox Television
Schöpfer: Ryan Murphy, Brad Falchuk und Tim Minear
Darsteller: Angela Bassett, Peter Krause, Oliver Stark, Aisha Hinds, Kenneth Choi, Rockmond Dunbar, Connie Britton u.v.m.
Executive Producer: Tim Minear, Bradley Buecker, Ryan Murphy, Angela Bassett, Zachary Reiter, John J. Gray, Robert M. Williams Jr. und Alexis Martin Woodall
Amerika hat ein besonderes Verhältnis zu seinen First Responders: Feuerwehrleuten, Polizisten, Rettungssanitätern (Paramedics) und den Dispatchers in der Notrufzentrale, die mit wachem Verstand und großem Koordinationstalent die Einsätze koordinieren. «9-1-1» erzählt ihre Geschichten – anders als im nicht totzukriegenden NBC-Franchise «Law and Order» oder dem «Chicago»-Potpourri allerdings unter Einbeziehung all dieser Berufsgruppen und ohne einen „Fall der Woche“. Die Geschichten sind hier stattdessen mosaikhaft in die jeweilige Episode verwoben, passend zu einem übergeordneten Thema und dem jeweiligen Entwicklungsstand des üppigen Figurenpersonals samt seiner privaten Probleme.

Als da wären: Abby Clark (Connie Britton), die Dispatcherin aus der Notrufzentrale, die am Telefon in Sekundenbruchteilen lebenswichtige Entscheidungen fällen muss, zu ihren in Not geratenen Gesprächspartnern rasch eine enge Bindung aufbaut, aber selten erfährt, ob alles gut ausgegangen ist. Als wäre das nicht genug der psychischen Extrembelastung, ist ihre Mutter bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium ihrer Alzheimer-Erkrankung angekommen.

Athena Grant (Angela Bassett) vom Los Angeles Police Department hat derweil privat mit dem Outing ihres Ehemannes zu kämpfen, der nun offen homosexuell leben und auch seinen Kindern diese wichtige Entscheidung mitteilen will – sehr zu ihrem Missfallen. Im Dienst gerät sie derweil mit Evan Buckley (Oliver Stark) aneinander, dem Neuzugang bei der Feuerwehr, der die ungute Angewohnheit entwickelt hat, mit Blaulicht zu seinen Casual-Sex-Dates zu fahren. Das kann auch sein gutmütiger Vorgesetzter Bobby (Peter Krause) nicht mehr durchgehen lassen – und es setzt die erste Abmahnung.

«9-1-1» ist nicht selten eine etwas kuriose Mischung: Soapiges Getue in Form von durchtrainierten Männern, die sich theatralisch ihrer Kleidung entledigen, wechselt sich ab mit feinsinnigen, relevanten, politischen Szenen, in denen ein afroamerikanischer Mann mittleren Alters – sehr zum Schmerz seiner Frau – seinen Kindern bedacht erläutert, dass er homosexuell ist. Kuriose Fälle (ein die Toilette hinuntergespültes Baby, das im Rohrsystem feststeckt), kurz anerzählte Traumata (eine Selbstmörderin, die Bobby nicht von ihrem Freitod abhalten kann) und ausdauernd aufgebaute Plots (zu allem fähige Einbrecher, die es auf ein kleines Mädchen abgesehen haben) geben sich die Klinke in die Hand.

Im Duktus unterscheidet sich «9-1-1» nur unbedeutend von den anderen Serien, die Ryan Murphy und sein engerer Autorenzirkel erdacht haben: «Glee», «Scream Queens» und «American Horror Story». Wenn einem hier auch die Vielfalt der Genres auffallen mag, – ein High-School-Drama, eine Thriller-/Horror-Serie, eine Horror-Parodie und nun ein Medical-/Police-Procedural-Verschnitt – so einen sie doch zahlreiche Parallelen in Erzählweise und –haltung: die Furchtlosigkeit vor der Unglaubwürdigkeit, die teilweise grotesken Übertreibungen, der schallende, aber aufrichtige (!) Pathos und gleichzeitig eine sehr amerikanische Verklärung.

Das ist mitunter eher eine Frage des Geschmacks als des Stils, der persönlichen Präferenzen als des künstlerischen Könnens. Doch stilistisch tanzt Ryan Murphy auch mit «9-1-1» nicht mehr nur auf der Rasierklinge; er reißt alle Konventionen ab: In den völlig überkandidelten Momenten erzählt er einen Stoff, der bestenfalls noch als Guilty Pleasure durchgehen könnte – bis sich wenig später der erzählerische Tonfall völlig wandelt, hin zu einem feinsinnigen, emotional fordernden, aufrichtig erzählten psychologischen Stück über Lebenslügen und individuelle Sexualität im Kontext von Rasse, Politik und Familie. Das alles in einer Stunde unterzubringen, ohne den Faden völlig zu verlieren, ist durchaus eine Leistung. Eine in sich wirklich stimmige Serie lässt sich so jedoch kaum erzählen.
07.01.2018 11:50 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/98222