Die Kritiker: «Dark»

Netflix' erste deutsche Serie setzt gleich neue Maßstäbe: Ein Mystery-Stoff, der ernsthaft mit den großen amerikanischen Erzählstücken «Twin Peaks» und «Stranger Things» mithalten kann.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Louis Hofmann als Jonas Kahnwald
Oliver Masucci als Ulrich Nielsen
Caroline Eichhorn als Charlotte Doppler
Andreas Pietschmann als der Fremde
Lisa Vicari als Martha Nielsen
Moritz Jahn als Magnus Nielsen
Daan Lennard Lebrenz als Mikkel Nielsen

Hinter der Kamera:
Produktion: Wiedemann & Berg Television
Schöpfer: Baran bo Odar und Jantje Friese
Executive Producer: Baran bo Odar, Jantje Friese, Max Wiedemann, Quirin Berg und Justyna Müsch
Kamera: Nikolaus Summerer
«Dark» gibt sich große Mühe, verschiedene Zeitebenen nicht nur miteinander zu verweben, sondern auch – ein erster von vielen philosophischen Untertönen – die klare Trennbarkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an sich zu negieren: mit einem vorangestellten Zitat von Albert Einstein, das der Zuschauer stets im Hinterkopf behalten soll, mit immer wiederkehrenden Rückgriffen in längst vergangene Jahrzehnte – und mit einer ersten Einblendung: „21. Juni 2019“. Dort spielt die erste Szene, in der sich ein Mann in seinem gutbürgerlichen Haus erhängt, nachdem er noch einen verschlossenen Umschlag hinterlassen hat, der laut seinen Anweisungen nicht vor dem späten Abend des 4. November 2019 geöffnet werden darf.

Der Suizident war der Vater des 16-jährigen Jonas Kahnwald (Louis Hofmann). Seine Mutter scheint der Freitod ihres Mannes nicht sonderlich mitzunehmen: Sie vergnügt sich mit dem Polizisten Ulrich Nielsen (Oliver Masucci), der selbst mit einer anderen Frau verheiratet ist, mit der er drei Kinder hat, die wiederum mit Jonas befreundet sind.

Ulrichs akutes Problem ist derweil beruflicher Natur. Denn im beschaulichen Spielort Winden taucht ein Jugendlicher seit zwei Wochen nicht mehr auf: Er ist wie vom Erdboden verschluckt, und obwohl er schon früher öfter von seinen degenerierten Eltern weggelaufen ist, deutet diesmal immer mehr daraufhin, dass ihm etwas zugestoßen ist. In der örtlichen Schule werden Sitzungen mit den verstörten Eltern des Dorfes abgehalten, die Polizei tappt im Dunkeln. Ulrichs Kinder und Jonas, der ein Auge auf Ulrichs Tochter geworfen hat, hecken derweil einen Plan aus, mit dem sie dem Verschwinden ihres Schulkollegen etwas Positives abgewinnen könnten: Im Wald gibt es eine Höhle, in der der abhanden gekommene Jugendliche immer seine umfangreichen Drogenvorräte gebunkert haben soll: Die will die Bande an sich reißen. Dass es dabei zu einem Unglück kommt, dürfte sich von selbst verstehen.

Es ist ungewöhnlich, dass sich Netflix für seine erste deutsche Serienproduktion des Thriller-Mystery-Genres annimmt. Schließlich haben sich seine bisherigen europäischen Serien, ob das französische «Marseille», die spanischen «Chicas del Cable» oder das italienische «Suburra» immer damit begnügt, im jeweiligen Markt typische Erzählmuster nachzubauen. An deutschen Mystery-Serien hat es zumindest in der jüngsten Vergangenheit jedoch nur ein relevantes Beispiel gegeben: «Weinberg», das – ähnlich wie «Dark» – dem breiten Publikum vorenthalten blieb und nur für zahlende Zuschauer zu sehen war.

Man erkennt freilich sofort, welche Formate für «Dark» Pate gestanden haben – und das sind keine deutschen. Die düstere Atmosphäre, die seltsam entrückt gezeichneten Charaktere im Dorf, von denen einige vermeintlich verrückt oder zumindest ziemlich tattrig sind, der wabernde Nebel in der unwirtlichen Gegend, die trist grauen Bilder, von denen trotz oder gerade wegen ihrer trostlosen Komposition doch eine gewisse Heimeligkeit ausgeht. Das Vorbild von «Dark» ist klar «Twin Peaks», während Anklänge an «Stranger Things» wohl rein zufällig, aber eben unvermeidlich sind. Ob sich die Macher bewusst an ihnen orientiert haben, ist ohnehin vollständig nebensächlich. Und genau deshalb gelingt diese Serie so gut: Denn auch wenn sie stark von großen Kunstwerken des Fernsehens inspiriert ist, versteht sie dieses Spannungsverhältnis zwischen eigenem künstlerischen Schaffen und (vermeintlichem?) Vorbild perfekt: «Dark» kupfert nicht ab, baut nicht nach, klaut sich nichts zusammen, schreibt nicht ab.

Barab bo Odar und Jantje Friese ist eine Serie von enormer erzählerischer Stärke gelungen – doch «Dark» gelingt nicht nur dadurch, dass die Anklänge an ein Vorbild vom Kaliber eines «Twin Peaks» frei von Anmaßung und Lächerlichkeit sind, sondern dass die Serie auch dann noch funktioniert, wenn man sie außerhalb dieses Kontexts betrachtet. «Dark» ist weder Plagiat noch Hommage, weder Anspielung noch Imitation, sondern schafft sich einen eigenen, unabhängigen mystischen Kosmos, der in sich vollständig sinnhaft ist.

Interessant – und wohl ein erstes auszeichnendes Merkmal – ist dabei, dass sich «Dark» mit einschlägigen amerikanischen Produktionen wesentlich treffsicherer vergleichen lässt als mit deutschen Serien. Zwar ist die Ästhetik mit all den Mietshäusern, den großen Schulaulas mit ihren quietschgelben 80er-Jahre-Metall-Türen, muffigen Klassenzimmern und abgestanden grauen Brandschutzdecken eine unverkennbar deutsche, die Kameraführung mit ihren weiten Winkeln und ihren zahlreichen Tracking Shots jedoch eine ebenso unverkennbar amerikanische. Das ist Think local, act global kohärent zu Ende gedacht: Der Handlungsort ist für ein deutsches Publikum klar als Heimat erkennbar, der Stil allerdings für ein internationales wie ein mit angelsächsischen Formaten sozialisiertes deutsches Publikum unaufdringlich und fügt sich nahtlos in die Tradition von «Twin Peaks», «Stranger Things» und ähnlichen Formaten ein. Nur dass der Spielort diesmal eben in Europa ist.

Die besondere atmosphärische Qualität von «Dark» liegt mitunter an der Zeit, die sich die Serie jenseits der Erzählung ihres dichten Plots nimmt, um eingehend diesen Ort und seine Bewohner zu betrachten. Dort ist alles umgeben von einem Gefühl von Mystik, des Verschworenen und des Geheimnisses, aber es geht nicht so sehr darum, was dieses Geheimnis nun genau ist. «Dark» ist reich an Symbolkraft, und diese Symbolkraft ist eine örtlich klar verwurzelte: Über dem Ort thronen die grauen Kühltürme eines Atommeilers, in dem sich, was die Serie schon früh vorstellt, wohl nicht ganz legale Dinge abspielen. Aus der nahegelegenen Höhle dringen seltsame Geräusche. Das provinzhafte Winden ist durchdrungen von einer Gefahr, aber diese Gefahr scheint niemanden sonderlich zu erschüttern, als lebte man schon lange mit ihr, als erwartete man gar, dass nun im Jahr 2019 wieder etwas Schreckliches passieren würde. Und trotzdem lebt man weiter – ganz wie in Twin Peaks, Washington. Und genau wie jener bekannte Ort im Westen Amerikas wirkt dieses Winden seltsam real und gruselig apokalyptisch zugleich.

Komplettiert wird das mit großem narrativen Gespür verfasste Drehbuch und die feinsinnige, außerordentlich kunstvolle Inszenierung von einem handverlesenen Cast, der in seiner wunderbar bedachten Besetzung die Eigenschaft dieser Serie als Ensemblestück zementiert. Es fällt schwer, präzise zu sagen, wer die Hauptfigur dieses Stoffs ist, weil «Dark» gerne die Blickwinkel wechselt, mit großem psychologischen Interesse und erzählerischem Fingerspitzengefühl verschiedene Milieus des Ortes zeigt: die Jungen, die Alten, die Erwachsenen, die Marginalisierten, die Exzentrischen, die Angepassten, die Mahner, die Verdränger.

Mit Sicherheit ist Louis Hofmann in seiner Rolle als Jonas Kahnwald der Erste, der besonders positiv auffällt. Denn seine Figur führt uns in diese Serie hinein, mit ihr verbringen wir die ersten Minuten hauptsächlich, und sofort fällt sein filigranes Spiel dieser fragilen Rolle auf. Bald darauf sticht Oliver Masucci als Ulrich Nielsen heraus, der unter den vielen Gesichtern ein außerordentlich markantes bleibt und dem Zuschauer einen Anker bietet, sich in dem großen Cast nicht zu verlieren. Lisa Vicari und Moritz Jahn fallen als Darsteller der jüngeren Figuren derweil mit besonderem spielerischen Geschick auf, das ihre Charaktere ebenbürtige Rollen mit den erwachsenen Protagonisten werden lässt.

Schon nach wenigen Minuten lässt «Dark» seine Zuschauer nicht mehr los. Eine solche Sogwirkung können nur besonders klug geschriebene und gekonnt inszenierte Stoffe auslösen. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es gerade das Serienentwicklungsland Deutschland ist, das den ersten europäischen Netflix-Stoff liefert, der mit seinen amerikanischen Pendants ernsthaft mithalten kann.

Netflix zeigt mit «Dark» ab dem 1. Dezember seine erste deutsche Serieneigenproduktion.
23.11.2017 01:46 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/97288