Peak TV: Gibt es zu viel Fernsehen?

Fast 500 neue Serien feiern 2017 allein in den USA ihre Premiere, der Zuschauer sieht sich dabei aber immer mehr Konsumdruck ausgesetzt. Doch in der Branche findet langsam ein Umdenken statt.

Entwicklung der US-Serienproduktion

  • 2002: 182 Serien
  • 2009: 210 Serien
  • 2010: 216 Serien
  • 2011: 266 Serien
  • 2012: 288 Serien
  • 2013: 349 Serien
  • 2014: 389 Serien
  • 2015: 420 Serien
  • 2016: 454 Serien
Umfasst Network-, Pay Cable-, Basic Cable- & Streaming-Serien
Von ‚Peak TV‘ sprechen Personen in der US-amerikanischen Fernsehbranche dieser Tage immer häufiger, um unser aktuelles Fernsehzeitalter zu beschreiben. Dieser Tage? Genauer müsste man sagen: Schon seit Jahren, denn der Begriff wird immer wieder verwendet, um damit den nächsten Peak, einen weiteren Höhepunkt in der Serien-Produktion, zu melden. Doch wovon sprechen wir überhaupt? Im Jahr 2010 belief sich die Anzahl an Serien im Network- und Kabelfernsehen sowie im damals noch sehr kleinen Streaming-Bereich auf 216 Produktionen, die in besagtem Jahr ihren Weg auf die Bildschirme fanden – nur im Fiction-Bereich. Im vergangenen Jahr zählte die US-Unterhaltungsindustrie bereits 455 Produktionen, innerhalb von sechs Jahren hatte sich die Anzahl also mehr als verdoppelt. John Landgraf, Senderchef des Kabelsenders FX bezifferte die Zahl der ‚Scripted Programs‘ diesen August auf bislang 342 neue Serien im Jahr 2017, gegenüber 325 zum gleichen Zeitpunkt vor einem Jahr. Die US-Serienwelt könnte also noch in diesem Jahr die 500er-Marke knacken, schließlich steht der Start der kommenden Fernsehsaison erst noch bevor.

500 neue Serien 2017, vor allem aufgrund der Streaming-Anbieter


Dass die 500 Serien-Hürde in diesem Jahr noch genommen werden könnte, hat vor allem mit dem Aufmarsch der Streaming-Anbieter wie Netflix oder Amazon zu tun, die 2017 bislang 62 neue US-Serien an den Start brachten und bereits weitere 79 für dieses Jahr ankündigten. Halten die Streamingdienste ihr Versprechen, käme dies bis zum Ende des Jahres 141 neuen Serien zum Streamen gleich. Im vergangenen Jahr waren es noch 95. Apple, das selbst einen großen Schritt im VoD-Bereich machen will, hat dabei die Pläne des neuen Programmchefs noch nicht einmal verkündet. Die Zahlen im Network- und Kabelfernsehen sind in den USA unterdessen zum aktuellen Zeitpunkt nur marginal gestiegen. Kein Wunder, schließlich können die Fernsehsender nach wie vor nur 24 Stunden am Tag senden.

Nie war der Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen in der Fernsehbranche größer, oder besser: In der Serienbranche. Schließlich entziehen sich Streaming-Dienste einiger Kriterien, die mit dem klassischen Fernsehbegriff verbunden werden. Während die linear sendenden Networks nur 24 Stunden am Tag Programm betreiben können, haben Zuschauer auch nur 24 Stunden am Tag Zeit, sich die Serien anzuschauen. Der Selektionsprozess wird damit immer komplexer. Fast wöchentlich wird mit einem neuen Format der nächste große Serienhit verlautbart, der als ‚Must-See-TV‘ propagiert wird. Will man im Freundeskreis mitreden können, unter den Kollegen mit Fachwissen glänzen oder schlicht und einfach für sich alleine die beste Unterhaltung finden, muss man ständig auf dem Laufenden bleiben, Foren, Nachrichtenportale, Blogs und die sozialen Medien durchforsten, vielversprechende Serien identifizieren und die Formate schnellstmöglich schauen, damit man sich ein Urteil darüber bilden kann.

Anthology- und Miniserien: Wie die Branche den Druck auf den Zuschauer verringern will


Muss man wirklich? Auch die Serienproduzenten und Autoren scheinen sich der Antwort auf dieser Frage nicht mehr sicher zu sein und antizipieren ein Umdenken auf Seiten des Zuschauers. In einer Zeit, in der die Serien-Rezeption zumindest in Serien-affinen sozialen Gruppen einen Druck aufbaut, fast schon zwanghaft wird, bieten einige Formate bereits andere Modelle. Passé sind bei vielen Formaten die sogenannten Story-Arcs, die über etliche Staffeln hinweg Charaktere konstruieren und dekonstruieren wie bei «Die Sopranos», «The Wire», «Mad Men» oder «Breaking Bad» (Foto), die allerdings dafür die Serien-Bestenlisten anführen.

Das Umdenken, das angesichts des Überangebots in der Serienwelt bei einigen Zuschauern stattzufinden scheint, mündete in den vergangenen Jahren in einem kleinen Hype um Anthology-Serien, die in jeder Staffel eine neue Geschichte bestreiten, wobei nur Motive, Stil oder Cast erhalten bleiben. Interessanterweise stammen einige dieser Serien von FX, dessen Chef John Landgraf ja scheinbar sehr genau über die Auswüchse der Serienindustrie auf dem Laufenden bleibt. «Fargo», «American Crime Story», «American Horror Story» oder «Feud» kennzeichnen einige der Anthology-Serien, die in den vergangenen Jahren die Serienwelt eroberten. «American Crime» oder «True Detective» stellen weitere Beispiele dar. Das Angebot: Gerne bingen, aber nicht länger als eine Staffel.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Miniserien wie den HBO-Produktionen «Big Little Lies» (Foto) oder «The Night Of», BBCs «The Night Manager», «Krieg und Frieden» und «Taboo», Netflix‘ «The Keepers», «The Dresser» von starz, «Roots» bei History, der ESPN-Doku «O.J.: Made in America» oder der auf Lifetime erschienenen Serie «And Then There Were None» – alle in den vergangen zwei Jahren erschienen. Mit «The Guest Book» debütiert bald eine weitere Miniserie bei TBS. AMC entwickelt derzeit sogar drei Anthology-Serien und selbst die Coen-Brüder planen ein Anthologie-Format.

Noch kleinteiliger und daher zwangloser wird das Sehvergnügen mit Serien, die jede Episode eine andere Geschichte liefern. «Twilight Zone» machte es vor vielen Jahren vor, mittlerweile zeigt beispielsweise das von Netflix übernommene «Black Mirror» von Folge zu Folge verschiedene, meist dystopische Zukunftsvisionen im Kontext moderner Technik auf. Mit «Easy» legte Netflix vergangenes Jahr ein Format nach, das sich jede Episode mit anderen Aspekten moderner Beziehungen befasst. Besagte, von Episode zu Episode denkende Herangehensweise stellt derzeit noch eine Ausnahme dar, könnte aber schon bald populärer werden.

Zwangloser Serien-Trend: Fernseh-Tinder


Zumindest kennzeichnete das zwanglose Seherlebnis einen der Trends im Rahmen der kürzlich abgehaltenen Television Critics Association Press Tour. Dort stellten die Brüder Mark und Jay Duplass ihre neue HBO-Anthologyserie «Room 104» vor und verglichen das Format dabei nonchalant mit einer ungezwungenen Liebesbeziehung. „Man schneit rein, sieht eine Episode, hat etwas Sex mit ihr. Danach muss man nicht einmal für weitere Episoden zurückkommen“, so Mark Duplass, während Bruder Jay das Format als „Tinder of Television“ bezeichnete.

Brauchen Serienfans heutzutage diesen neuen Ansatz? Serienkonsum, genauso zwanglos wie das Wischen auf der Dating-App? Viele Mediennutzer fühlen sich bei der Ansicht von Unterhaltungsprogrammen jedenfalls wesentlich weniger unterhalten als zu Zeiten, in denen noch die Fernsehzeitschrift das Serien-Angebot vollständig abdeckte und „Must-See-TV“ noch „Can-See-TV“ war. Die Hingabe, die es erfordert, bei mehreren Serien auf dem Laufenden zu bleiben, kann man schließlich auch in gewinnbringendere Aktivitäten investieren.

Vielleicht sind deshalb auch Procedural Dramas nicht totzukriegen, die zwar bei Weitem nicht so wohlwollende Kritiken erhalten wie epische, horizontal erzählte Serien, dafür aber mit Vertretern wie «CSI», «Navy CIS», «Law & Order» oder dem «Chicago Franchise» und allen ihren Ablegern am kommerziellsten sind. Procedurals gewinnen keine Emmys mehr, keine Golden Globes, dafür bieten sie etwas ungezwungene Unterhaltung und weniger Verpflichtung. Man wischt links, wischt rechts und stürzt sich gegebenenfalls in ein kleines Serien-Techtelmechtel.
05.10.2017 10:13 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/96198