Die glorreichen 6 – Beeindruckende Kammerspiele (Teil I)

Begrenzter Raum, unbegrenzter Filmgenuss: Wir präsentieren sechs filmische Kammerspiele – mal humorvoll, mal hochspannend. Zum Auftakt widmen wir uns dem oft kopierten Justizklassiker «Die zwölf Geschworenen».

Die Handlung


Filmfacts «Die zwölf Geschworenen»

  • Regie: Sidney Lumet
  • Produktion: Henry Fonda, Reginald Rose
  • Drehbuch: Reginald Rose
  • Darsteller: Martin Balsam, John Fiedler, Lee J. Cobb, E. G. Marshall, Jack Klugman, Edward Binns, Jack Warden, Henry Fonda, Joseph Sweeney, Ed Begley, George Voskovec, Robert Webber
  • Musik: Kenyon Hopkins
  • Kamera: Boris Kaufman
  • Schnitt: Carl Lerner
  • Veröffentlichungsjahr: 1957
  • Laufzeit: 96 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Ein glühend heißer Sommertag in den USA: Zwölf Geschworene sind mit der Aufgabe betreut, über das Urteil in einem Mordfall zu entscheiden: Ein Jugendlicher mit puerto-ricanischen Wurzeln soll seinen Vater mit einem Klappmesser getötet haben. Da der Angeklagte in der Verhandlung nicht gerade einen guten Eindruck gemacht hat und zudem ein Vorstrafenregister aufweist, scheint für viele der Geschworenen der Fall klar zu sein.

Doch einer von ihnen möchte nicht vorschnell für "schuldig" stimmen, sondern rollt im stickigen Geschworenenraum die Details der Verhandlung erneut auf – sehr zum Frust seiner Mitgeschworenen. Es beginnt eine hitzige Debatte, in der Abstimmungsallianzen geschlossen und wieder gebrochen werden. Genauso werden Vorurteile vorgeführt und Ängste ausgesprochen …

Der Schauplatz


Abgesehen von den ersten Minuten, in denen ein uninteressiert klingender Richter den Fall erläutert und die Bedeutung des Geschworenenurteils erklärt, sowie den letzten Sekunden des Dramas, spielt «Die zwölf Geschworenen» durchweg im Geschworenenraum. Das Geschehen spielt sich praktisch in Echtzeit ab, so dass Lumet sein Publikum in die Position eines emotional und intellektuell involvierten, doch zur Passivität verdammten Beobachtenden versetzt:

Das Gerichtshinterzimmer entwickelt sich für die Geschworenen, von denen manche einfach nur "Feierabend" haben und die Besprechung hinter sich bringen wollen, zu einem Gefängnis – schließlich können sie es nicht verlassen, ehe sie eine Einigung erzielt haben. Dadurch, dass Lumet auf einen Subplot und die Parallelmontage zu einem anderen Schauplatz verzichtet, verstärkt er diesen Effekt – und umso befreiender sind die allerletzten Augenblicke seines Kino-Regiedebüts, die uns als Zuschauende sowie die handelnden Geschworenen wieder an die frische Luft entlassen.

Die 6 glorreichen Aspekte von «Die zwölf Geschworenen»


Obwohl Sidney Lumets dreifach für den Oscar nominierter Filmklassiker aus dem Jahr 1957 stammt und auf einen Fernsehfilm von 1954 basiert, ist «Die zwölf Geschworenen» ungebrochen aktuell: Lumet zeigt die potentielle Gefahr dessen, wenn eine nur im Detail unterschiedliche Gruppe von Menschen über das Schicksal einer anderen Person entscheidet. So mögen die titelgebenden Geschworenen verschiedene Berufe aufweisen, manche eher liberal sein, andere konservativ oder gar rassistisch – doch sie alle sind weiße Männer aus der gehobenen Mittelklasse, und fast alle von ihnen sind mittleren Alters. Und somit haben sie, bis auf ihr Geschlecht, überhaupt nichts mit demjenigen gemeinsam, über den sie eine Entscheidung fällen – abgesehen von einem Geschworenen, der ebenfalls in die USA eingewandert ist (wenngleich aus Deutschland, nicht aus Puerto Rico).

Somit ist Lumets im Original noch stärker überspitzt «12 Angry Men» betitelter Film mehr als bloß ein fundierter und berechtigter Angriff auf das US-amerikanische Modell der Geschworenenentscheidung, sondern auch ein Exempel, das aufzeigt, wie entscheidend es ist, bei einflussreichen Gruppen nach einer repräsentativen Zusammenstellung zu streben. Es der facettenreichen Charakterskizzierung und messerscharfen Dialoge in Reginald Roses Drehbuch zu verdanken, dass «Die zwölf Geschworenen» den kniffligen Drahtseilakt makellos begeht, sowohl den problematisch-ähnlichen Hintergrund der Geschworenen zu unterstreichen, als auch jedem einzelnen der Männer eine individuelle Persönlichkeit zu verleihen.

Die potentiell belehrende Attitüde dieses Kammerspiels wird zudem durch den starken Cast, angeführt vom legendären Henry Fonda abgewendet: Das Ensemble trägt seine Argumente für und wider eines Urteils zur Todesstrafe mit einer überwirklichen Gewissenhaftigkeit, gleichwohl mit einer lebensnahen Überzeugungskraft vor und findet somit einen sehr reizvollen Mittelweg zwischen (zur kammerspielhaftigkeit des Films passendem) bühnenhaftem Spiel und Natürlichkeit. Auch die eingestreute humoristische Note, wenn die Geschworenen ihre Debatte mit trockenen Sprüchen auflockern, vitalisiert den Filmstoff, der in anderen Händen spröde hätte werden können, bei Lumet aber einen dramatischen Filmgenuss darstellt.

Besonderes Augenmerk gebührt jedoch der subtilen, meisterhaften Kameraarbeit von Boris Kaufman: Mit steigender Spannungskurve nehmen er und Lumet durch den Einsatz von Objektiven mit immer längerer Brennweite den Hintergrund aus dem Fokus, bis die Konturen der Darsteller fast schon mit ihm verschmelzen. Zudem sinkt die Kameraposition von Akt zu Akt, bis auch die Decke des Raums ins Bild ragt und die Figuren weiter einengt, an die Lumet kontinuierlich näher rückt, so dass gegen Schluss ein Gefühl der Klaustrophobie erlangt wird, das der Anspannung im Geschworenenraum mehr als nur gewachsen ist.

«Die zwölf Geschworenen» ist auf DVD und Blu-ray erhältlich sowie via iTunes verfügbar.
23.07.2017 11:14 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/94622