Die Kritiker: «Charité»

Am Dienstagabend startet die hochwertig produzierte, narrativ aber weit unter ihren Möglichkeiten bleibende ARD-Serie.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Alicia von Rittberg als Ida Lenze
Justus von Dohnányi als Robert Koch
Christoph Bach als Paul Ehrlich
Matthias Koeberlin als Emil Behring
Ernst Stötzner als Rudolf Virchow
Emilia Schüle als Hedwig Freiberg
Ramona Kunze-Libnow als Oberin Martha

Hinter der Kamera:
Produktion: MIA Film und UFA Fiction GmbH
Drehbuch: Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann
Regie: Sönke Wortmann
Kamera: Holly Fink
Produzenten: Benjamin Benedict, Markus Brunnemann, Nico Hofmann und Sebastian Werninger
Period Dramas lassen sich grundsätzlich auf zwei Arten erzählen: Man kann ihren zeitlichen Hintergrund zur bloßen Kulisse degradieren, um vor ihm melodramstrotzende Allgemeinplätze abzuspulen. Oder man nimmt ihn zum Ausgangspunkt, um ihn kontrovers und mit Haltung zu diskutieren und von ihm ausgehend auch auf die heutige Zeit zu blicken.

Letzteres hat viele Filme und Serien zu durchschlagenden Erfolgen und künstlerischen Triumphen gemacht. Länderübergreifend: «Mad Men», «Weissensee», «Un Village Francais». Ersteres Szenario endet dagegen oftmals im inhaltlichen Misserfolg: «Die Wanderhure», «Die Pilgerin». Rezensionen solcher Produktionen schreiben sich leicht.

Schwieriger wird es, wenn sich ein Format nicht so recht entscheiden kann. Etwa die neue ARD-Serie «Charité», die in sechs Folgen von der gleichnamigen Berliner Uniklinik im späten neunzehnten Jahrhundert erzählt.

Sie tut das an vielen Fronten und mit einem gesellschaftlich breit gestreuten Fundus an Figuren: In der Eröffnung wird Ida Lenze (Alicia von Rittberg), eine achtzehnjährige mittellose Waise, mit einer akuten Appendizitis eingeliefert – eine Erkrankung, die man im Spieljahr 1888 gerade so mit den neuesten Methoden und unter den glücklichsten Umständen heilen konnte. Emil Behring (Matthias Koeberlin), der in seiner Patientin eine alte Bekannte wiedererkennt, operiert sie, und obwohl sie bald unter schwersten Komplikationen leiden muss, überlebt sie – steht am Schluss aber mit einem horrenden Berg Schulden da, den sie lange in der Klinik wird abarbeiten müssen.

Die Schwesternschaft leitet die frömmelnde Oberin Martha (Ramona Kunze-Libnow), die man gerne einmal Florence Nightingale vorstellen möchte. Denn die alte Martha hält von den neuen mikrobiologischen Entdeckungen und einem Minimum an Hygienevorschriften nicht viel. Der Körper heile sich nur durch die Hilfe Gottes, und ein neumodisches menschliches Eingreifen mit Dingen wie Technik und erkenntnistheoretisch validierbaren Methoden – das ist Teufelszeug. Leiden schule die Seele, trichtert sie ihren Untergebenen ein.

Die haben freilich andere Sorgen: ein Leben in der Perspektivlosigkeit, unter kümmerlichen Bedingungen, wenn nicht gar lebensgefährlichen. Jedes Jahr krepiert mindestens eine der Schwestern an der Tuberkulose, weil man die hochinfektiösen Patienten aus Platzmangel und einem strukturellen Fehlen an gutem Willen nicht isolieren kann. Den kleinen Patienten auf der Kinderstation, die vornehmlich an der Diphtherie laborieren, blühen noch schlechtere Chancen: Kaum einer wird die Klinik lebend verlassen. Das späte neunzehnte Jahrhundert, es ist aus heutiger Sicht schier unfassbar brutal.

Währenddessen forscht Robert Koch (Justus von Dohnányi) an einem Wirkstoff gegen eines der großen Leiden seiner Zeit: die Schwindsucht, die aus Sicht der intellektuell völlig stumpfsinnigen Kaisergattin von Onanie und einem zu exzessiven Gebrauch von Seife ausgelöst wird. Derweil reißen sich talentierte junge Ärzte um einen Platz in Kochs Labor, um an seiner bahnbrechenden Forschung mitzuwirken – im Fall von Paul Ehrlich (Christoph Bach) auch aus höchstpersönlichen Gründen. Er ist selbst an der Tuberkulose erkrankt. Auf Koch hat derweil die junge und intellektuell ambitionierte Schauspielerin Hedwig Freiberg (Emilia Schüle) ein Auge geworfen, die in einem Berliner Variété notdürftig verklausulierte vulgäre Lieder absingt, in ihrer Freizeit aber mit größtem Enthusiasmus Kochs Forschungsaufsätze verschlingt.

Jenseits dieser Vielzahl an Handlungssträngen offenbart sich der politische Umbruch im Dreikaiserjahr. An der Universität sind die Burschenschaftsmützchen allgegenwärtig, und auch die Haltung der Intelligentsia an der Berliner Charité ist bis auf wenige Ausnahmen – verkörpert im „liberalen“ Pathologen Rudolf Virchow (Ernst Stötzner), der darauf verzichtet, „Heil dir im Siegerkranz“ mitzusingen – stramm deutschnational und durchsetzt von einer chauvinistischen Großtuerei, die in der anstehenden wilhelminischen Ära freilich noch in ganz anderen Exzessen kulminieren wird.

Doch «Charité» liefert keine intellektuellen Psychogramme wie «Mad Men» oder – trotz aller Bemühungen und seiner horizontalen Erzählstruktur – einnehmende, aufrichtig ergreifende Geschichten wie «Weissensee». Die neue ARD-Serie erinnert vielmehr an opulent ausstaffierte, aber erzählerisch zweitklassige Historienstoffe südeuropäischer Produktion.

Was nicht bedeuten soll, dass «Charité» nicht in einigen Punkten reüssiert. Die Serie hält ihre erzählte Zeit erstaunlich frei von Anachronismen, vermeidet es, so gut es geht, ihre Figuren zu sehr in (historisch) stereotypisierte Rollen zu pressen und bemüht sich gleichsam ambitioniert, dem Geist der Zeit nachzufühlen, und sie mit der heutigen zu kontrastieren, ohne allzu banale Parallelisierungen zu forcieren: Die Robert Kochs von Heute heißen Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier, die aus heutiger Sicht trivialen Lehren der Hygiene und Bakteriologie sind in allen mehr oder weniger entwickelten Ländern absoluter, unwidersprochener Mindeststandard, und die exzentrischen medizinischen Theorien der Zeit, die von den (religiösen oder hochadeligen) altmodischen Figuren in der Serie vertreten werden, taugen heute nur noch als Quell der Belustigung.

«Charité» ist jenseits seiner Handlungsstränge damit – und das dürfte ihr größter inhaltlicher Gewinn sein – eine techno- und fortschrittsoptimistische Serie, die den häufig angetroffenen naturverklärenden Untertönen in deutschen Fernsehfilmen einen sinnigen Kontrapunkt entgegensetzt, indem sie zeigt, wie eine technophobe und wissensfremde Natürlichkeit so aussieht.

Diesen interessanten und durchaus beeindruckenden Ansätzen stehen freilich die dramaturgisch substanzlosen, aber offenbar sendeplatzgemäßen Anbiederungen an einen am Reißbrett antizipierten Zuschauergeschmack entgegen: die recht schnelle Andeutung einer bevorstehenden Dreieckskonstellation um Hauptfigur Ida Lenze, die zu klischeehaft und unambitioniert entworfene Annäherungsgeschichte um Robert Koch und die intellektuelle, aber zu fahrig geschriebene Variété-Sängerin (eine Rolle, in der Emilia Schüle unter ihren Möglichkeiten bleiben muss), und die oftmals zu theatralische Inszenierung, die – sinnlos opulent, gleichzeitig aber filmisch uninspiriert – mehr nach deutschem Fernsehfilm als nach «Boardwalk Empire» aussieht.

Zumindest letzteres dürfte zwar zu erwarten gewesen sein, fällt aber angesichts der gelungenen Aspekte dieser Produktion umso negativer auf. Hätte man sich konsequenter auf die Stärken dieses Stoffes verlassen, hätte aus «Charité» eine erstklassige Serie werden können. So ist sie stattdessen gehobenes Mittelmaß geworden. Das Traurigste daran dürfte sein, dass man genau das wollte.

Das Erste zeigt sechs Folgen von «Charité» in Doppelfolgen dienstags ab dem 21. März um 20.15 Uhr.
18.03.2017 11:20 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/91909