'Es fühlte sich zwischendurch so an, als würden wir uns durch ein Minenfeld bewegen'

«Vaiana»-Produzentin Osnat Shurer und die Regisseure Ron Clements (Mitte) & John Musker (rechts) sprechen über die Herausforderungen, die der neue Disney-Film mit sich brachte.

Regiearbeiten Ron Clements & John Musker

  • 1986: «Basil, der große Mäusedetektiv» (mit David Michener und Burny Mattinson)
  • 1989: «Arielle, die Meerjungfrau»
  • 1992: «Aladdin»
  • 1997: «Hercules»
  • 2002: «Der Schatzplanet»
  • 2009: «Küss den Frosch»
  • 2016: «Vaiana» (Co-Regie: Don Hall und Chris Williams)
Ihr habt nun bereits erfolgreich mehrere Disney-Musicalabenteuer verantwortet – wird es dadurch schwieriger, ein weiteres zu inszenieren? Schließlich gilt es, einerseits die Formel zu bewahren, die das Publikum verlangt, und andererseits neue Wege zu beschreiten, damit es nicht langweilig wird …
John Musker: Ich hoffe jedenfalls, dass das Publikum den Eindruck gewinnt, dass wir auf familiärem Terrain neue Wege beschreiten. Das ist es, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollten dieses Mal keine Liebesgeschichte erzählen, sondern eher eine Coming-of-Age-Story. Es bot sich unserer Ansicht nach einfach bei dieser Handlung an, da von der altbekannten Formel abzuweichen. Ich denke, dass wir uns somit auch dem Zeitgeist anpassen. Frauen darin zu bekräftigen, dass sie andere Ziele im Leben haben können, als den richtigen Mann zu finden, gewinnt im Geschichtenerzählen berechtigterweise an Gewicht. Vaiana stellt sich einer aus ihr selbst entstandenen Herausforderung, statt einer romantischen. Dabei erzählen wir trotzdem eine zeitlose Geschichte – eine, wie sie Joseph Campbell beschrieben hat.


Ron Clements: Es ist aber wichtig, zu sagen, dass unser Vorgehen so ist, dass wir uns zunächst auf eine grundlegende Story einigen. Sobald die feststeht, konzentrieren wir uns darauf, sie zu einer abendfüllenden Handlung auszubauen und dabei dem ersten Grundgedanken gerecht zu werden. Wir schielen nicht sonderlich darauf, was außerhalb des Studios geschieht – das ist anbiedernd. Dass «Vaiana» keinen Romantiksubplot hat, liegt daran, dass es zu unserem Ausgangsgedanken passte und der Geschichte diente. Es geschah nicht, weil wir unsere Formel kalkuliert der Außenwelt entsprechend verformen wollten.

Zu dem Gedanken passend: Mir gefällt der Dialog sehr gut, in dem Maui behauptet, Vaiana sei eine Prinzessin, da alle singenden, jungen Frauen mit tierischem Begleiter Prinzessinnen wären! Ich sehe da zwar einen Hauch Selbstironie, vor allem aber einen Seitenhieb auf die unreflektierte Betrachtungsweise des Publikums – es werden ja fast alle menschlichen Disney-Heldinnen in die Prinzessinnenkategorie gepackt …
John Musker: Ja, auf den Gedanken ist unser Drehbuchautor Jared Bush gekommen. Wir sind sehr froh, dass der Dialog in Kinovorführungen stets große Lacher erntet. Wir glauben, dass sich das Publikum angesprochen und vielleicht sogar ertappt fühlt, weil Maui ihm diese vermeintliche Regel vor Augen hält. Aus einem ähnlichen Grund kommt Heihei oft so gut beim Publikum an – die Zuschauer lieben es, dass Vaiana mit einem Hahn auf Reisen geht, der ihr überhaupt keine Hilfe ist. Üblicherweise sind die tierischen Sidekicks ja sehr hilfreich und zudem Trostspender, wenn die Hauptfigur Kummer hat. Heihei lebt hingegen in seiner ganz eigenen Welt und ist dumm wie ein Stück Brot. Wir wollten mit ihm mal unsere Vorgehensweise gründlich aufmischen.

Zur Person: Osnat Shurer

  • Gehörte zunächst zur Leitung von Pixars Kurzfilmabteilung
  • Ist im Disney-Konzern als Beraterin in der Entwicklung neuer Realfilm- und Trickfilm-Storys tätig
  • Führte Regie bei «Vowellett - An Essay by Sarah Vowell», einer Kurzdoku über Schriftstellerin, Journalistin und Voice Artist Sarah Vowell
  • Beriet die Macher des Non-Disney-Trickfilms «Arthur Weihnachtsmann»
  • «Vaiana» ist ihr erster Langfilm als Produzentin
Osnat Shurer: Uns war es sehr wichtig, Vaiana als Person zu zeichnen, die dazu fähig ist, ihre Ziele zu erreichen. Weibliche Hauptfiguren werden noch immer ganz anders angepackt als männliche. Das zeigt sich etwa daran, dass wir bei Filmen mit männlichen Figuren, in denen keine Liebesgeschichte vorkommt, gar keine Fragen diesbezüglich gestellt bekommen. Bei weiblichen Figuren gehört die Romanze zum Grundinventar – das wollen wir ändern. Wir nähern uns einer Zeit, in der Hauptfiguren jedes Geschlechts jegliche Erzählungen durchmachen können.

John Musker: In diesem Sinne haben wir «Vaiana» genderneutral gehalten – obwohl wir unsere Heldin schon ganz bewusst noch immer als Mädchen geschrieben haben, statt für sie wie für einen Jungen zu schreiben, um der Figur dann einfach den Körper einer jungen Frau zu geben. Es war ein kniffliger Balanceakt …

Osnat Shurer: Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Eines der zentralen Elemente des Films ist die Erkenntnis, dass man auf sein Inneres hören sollte, und daher war es uns wichtig, dass Vaiana dabei lernt, dass sie selber auf sich passen kann – eine Feststellung, die weibliche Heldinnen viel zu selten machen.

Wir haben lange, sehr lange über einen Aspekt des Films diskutiert: Sollte Vaianas Aufbruch ins Ungewisse, in dieses riskante Abenteuer durch Selbstsucht oder Selbstlosigkeit motiviert sein? [..] Schlussendlich haben wir festgestellt: Wir müssen uns nicht zwischen dem Einen oder Anderen entscheiden. Es kann Beides sein.
Regisseur John Musker
Um daran anzuschließen: Gesellschaftliche Werte haben sich seit den 90ern, als die Disney-Trickstudios ihren zweiten Frühling hatten, sehr geändert. Und noch mehr seit der Anfangszeit der Disney-Trickstudios. Wie versucht ihr, dem Rechnung zu tragen?
Osnat Shurer: Zu Beginn des Films denkt Vaiana, dass es einen Konflikt gäbe, zwischen dem, was dem Wohl ihrer Familie und ihrer Heimat gereicht, und dem, wonach sie sich persönlich sehnt. Wie viele junge Menschen möchte sie ausbrechen und neue Horizonte entdecken. Es stellt sich aber heraus, dass dies nicht im Widerspruch zueinander steht – das halte ich für eine sehr moderne Geschichte und Moral. Wir feiern es, dass Vaiana, stellvertretend für uns, ein intaktes Familienverständnis hat und dennoch ihr eigenes Ding durchzieht.

John Musker: Wir haben lange, sehr lange über einen Aspekt des Films diskutiert: Sollte Vaianas Aufbruch ins Ungewisse, in dieses riskante Abenteuer durch Selbstsucht oder Selbstlosigkeit motiviert sein? Wir haben allein schon aufgrund dieser Frage sehr lange an der Story herumgeschraubt. Wir hatten Versionen, in denen Vaianas dominater Gedanke ein selbstbestimmter war – der Wunsch, etwas für sich zu tun. Dann haben wir das gekippt, und stärker betont, dass sie sich quasi für ihren Stamm opfert … Dass sie ihr Leben riskiert, um ihre Heimat vor dem drohenden Ende zu beschützen, selbst wenn es für sie gefährlich ist. Schlussendlich haben wir festgestellt: Wir müssen uns nicht zwischen dem Einen oder Anderen entscheiden. Es kann Beides sein – und nicht nur das: Es ergab letztlich sogar die in unseren Augen beste Version der Geschichte.

Ron Clements: Dadurch haben wir Vaiana dann unterbewusst noch stärker von unseren anderen Hauptfiguren abgegrenzt.

Osnat Shurer: Die ja oft von ihrem Umfeld abgelehnt wurden …

Ron Clements: Genau. Es war für uns gewissermaßen normal, von Figuren zu erzählen, die fliehen wollen, die sich woanders hin wünschen, weil sie in ihrer Lebenssituation nicht akzeptiert werden. Vaiana hat diese Motivation nicht – zumindest nicht direkt. Sie wird von ihrem Dorf geliebt und respektiert, nur ihre Sehnsucht nach der Seefahrt wird nicht warm aufgenommen. Vaianas Antrieb ist daher stärker der Konflikt, dass sie ihrer Familie helfen will, und das auf einem Weg, der sie fasziniert, selbst wenn er ihr unbekannt ist und eine Herausforderung darstellt.

John Musker: Das fand auch großen Zuspruch bei unserem 'Oceanic Story Trust', einer Gruppe von Einwohnern pazifischer Inseln, mit denen wir sehr intensiv Rücksprache gehalten haben, damit wir der polynesischen Kultur den angemessenen Respekt erweisen. Diese Beratergruppe fand es sehr schön, dass Vaiana solch einen Konflikt durchmacht, statt in die obligatorische Liebesgeschichte verwickelt zu werden. Denn laut ihr sind romantische Konflikte in dieser Kultur bei Mädchen in Vaianas Alter längst nicht von so großer Bedeutung wie eben diese Auseinandersetzung damit, wie nah man seiner Familie sein sollte und wie sehr man sich selbst zu verwirklichen hat.

Fast die ganze Story wurde durch die erste unserer Reisen auf den Kopf gestellt. [...] Bevor wir die erste Recherchereise unternommen haben, wollten wir, basierend darauf, was wir über polynesische Mythologie gelesen haben, einen Film mit Maui als Protagonisten verwirklichen. Wir wollten einige seiner Abenteuer zu einer zusammenhängenden Geschichte verschmelzen.
Regisseur Ron Clements
In diesem Zusammenhang: Wie haben sich die Recherchereisen, die für «Vaiana» unternommen wurden, auf die Handlung ausgewirkt?
Ron Clements: Fast die ganze Story wurde durch die erste unserer Reisen auf den Kopf gestellt. Die Idee, einen Film zu machen, der im westlichen Pazifik spielt, hatte John – denn dort spielte noch kein Disney-Trickfilm und wir beide hatten immer eine Faszination für diese Gegend über. Bevor wir die erste Recherchereise unternommen haben, wollten wir, basierend darauf, was wir über polynesische Mythologie gelesen haben, einen Film mit Maui als Protagonisten verwirklichen. Wir wollten einige seiner Abenteuer zu einer zusammenhängenden Geschichte verschmelzen.

Es war dann John Lasseter, der uns empfohlen hat, zuvor eine intensive Recherchereise unternehmen. Vor Ort haben wir dann durch die Gespräche mit den verschiedensten Menschen ein ganz neues Gespür für diese Gegend gewonnen und dafür, welche Geschichten man vor dieser Kulisse erzählen kann und sollte. Es beginnt bei solchen Details, wie Einwohner der pazifischen Insel segeln – Navigatoren sagten uns stets, dass man beim Segeln eine sanfte Vereinigung mit dem Ozean eingehen sollte. Und auf Tahiti sagte uns einer der Ältesten: „Wir wurden so oft von eurer Kultur verschlungen, es ist an der Zeit, dass ihr euch von unserer verschlingen lasst.“ Der Satz ist bei uns hängen geblieben und diente während der Produktion als Mantra. Nach dieser ersten Reise blieb nur wenig von unseren anfänglichen Storyideen über – und unter den Eindrücken des Trips fingen wir an, die Geschichte neu zu entwerfen. So kamen wir darauf, die Geschichte von Vaiana zu erzählen, die wissen will, wieso ein Volk von Seefahrern plötzlich aufhörte, zu segeln …

War die Produktion von «Vaiana» aufgrund dieses Aspekts, dass sich der Film an einer anderen Kultur bedient, herausfordernder als sonst?
Alle, unisono: Oh ja!

Es fühlte sich zwischendurch schon so, als würden wir uns durch ein Minenfeld bewegen. Wir mussten immer wieder darauf achten, dass wir genau zuhören, Wünsche unserer Berater respektieren und auch oft genug nachfragen, was sie von manchen Details halten.
Regisseur John Musker
John Musker: Es fühlte sich zwischendurch schon so an, als würden wir uns durch ein Minenfeld bewegen. Wir mussten immer wieder darauf achten, dass wir genau zuhören, Wünsche unserer Berater respektieren und auch oft genug nachfragen, was sie von manchen Details halten. So war Maui zunächst glatzköpfig. Erst bei einem späteren Recherchetrip kam dies zur Sprache – und dann haben wir erfahren, dass es zumindest für einige Völker wichtiger Teil seiner Legende ist, dass er eine wallende Mähne hat. Da war die Produktion bereits fortgeschritten – doch wir erkannten: Wir müssen das so umsetzen! Sowas hat den Produktionsprozess verkompliziert, zweifelsohne.

Osnat Shurer: Wobei es sehr geholfen hat, dass wir neben dem 'Occeanic Story Trust' auch Künstler mit polynesischen Wurzeln direkt in unserem eigenen Team hatten. Und den ersten Drehbuchentwurf steuerte Taika Waititi bei, der maorischer Herkunft ist. Generell gesagt, war es zwar eine Herausforderung, dass wir Elemente nicht frei erfinden konnten – diese Form an kollektiver Arbeit dagegen war uns nicht ungewohnt. Wir sind es im Trickmedium gewohnt, sehr kooperativ zu sein. Bei Disney und Pixar haben wir studiointerne Kerngruppen und studioübergreifend tauschen wir uns regelmäßig aus, um einen unbefangenen Blick auf unsere Filme zu haben. Dass wir eine Beratergruppe hinzugezogen haben, um kulturelle Authentizität zu erzielen, war da nur der konsequente nächste Schritt.

John Musker: Die Zusammenarbeit war sehr ergiebig. So hat uns der 'Oceanic Story Trust' ermutigt, für den Film eine fiktive Insel als Schauplatz zu kreieren, so dass wir etwas künstlerische Freiheit erlangen – und dem Konflikt entgehen, dass einige Mythen von Volk zu Volk leicht unterschiedlich ablaufen.

Ron Clements: Schade war daher, dass wir teils stark von Leuten kritisiert wurden, die nicht den ganzen Film gesehen haben, sondern nur Einzelbilder kannten – wenn überhaupt. So fanden manche Maui auf dem ersten Filmbild, das veröffentlich wurde, zu mollig. Von denen, die den ganzen Film gesehen haben, hören wir das nicht – dieses eine Bild war leider unvorteilhaft ausgesucht.

Wir könnten einen Film machen, der im Weltall spielt, und niemand würde sich weiter darum scheren. Hier hingegen bedienen wir uns an einer anderen Kultur – dass wir da, aller künstlerischen Freiheit zum Trotz darauf achten, niemandem auf die Füße zu treten, fanden wir angebracht.
Regisseur Ron Clements
John Musker: Wir haben den Film unter anderem in Tahiti gezeigt und der polynesischen Community in Los Angeles – und die Zuschauer waren immer zu Tränen gerührt. Das war uns der größte Lohn. Denn das war unser Job: Da wir keine persönlich erdachte Geschichte erzählen, sondern sie einer anderen Kultur entlehnen, müssen wir mit Respekt da herangehen, wenn wir Respekt zurückerhalten wollen.

Ron Clements: Es war eine Herausforderung, aber sie hat sich bezahlt gemacht. Wir könnten stattdessen auch einen Film machen, der im Weltall spielt, und niemand würde sich weiter darum scheren. Hier hingegen bedienen wir uns an einer anderen Kultur – dass wir da, aller künstlerischen Freiheit zum Trotz darauf achten, niemandem auf die Füße zu treten, fanden wir angebracht. Nicht jeder Film muss auf diesem Weg entstehen, hier war es aber notwendig und richtig.

Vielen Dank für das Gespräch.

«Vaiana» ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen – in 2D und 3D.
26.12.2016 12:56 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/90201