«The OA»: Zwischen Leben und Tod

Sieben Jahre war die blinde Prairie Johnson verschwunden – dann taucht sie samt ihres Sehvermögens wieder auf. Der neue Mystery-Thriller «The OA» überzeugt mit einer runden und spannenden Handlung sowie einer starken Hauptdarstellerin.

Cast & Crew

  • Showrunner: Zal Batmanglij, Brit Marling
  • Executive Producer: Zal Batmanglij, Brit Marling, Sarah Esberg, Dede Gardner, Jeremy Kleiner, Michael Sugar
  • Regie: Zal Batmanglij
  • Cast: Brit Marling, Emory Cohen, Patrick Gibson, Ian Alexander, Will Brill, Brendan Meyer, Scott Wilson
  • Produktion: Plan B Entertainment, Anonymous Content
Mit «Stranger Things» landete Netflix in diesem Jahr einen der großen Hits auf dem Serienmarkt. Nicht zu Unrecht wurde die Produktion der Duffer-Brüder auf Anhieb für einen Golden Globe als beste Serie nominiert – gemeinsam in einer Kategorie mit «Game of Thrones» oder «Westworld». Nun kam mit «The OA» eine neue Mystery-Produktion auf den Markt, die mit «Stranger Things» aber nur die Genre-Bezeichnung teilt. «The OA» schlägt in eine andere Mystery-Kerbe und hat während ihrer Produktion überraschend wenige Spuren in der öffentlichen Wahrnehmung hinterlassen. Über anderthalb Jahre hörte man nicht viel von «The OA» – bis Netflix auf einmal ankündigte, dass die Serie vier Tage später weltweit verfügbar sein würde.

So unerwartet wie das Erscheinen von «The OA» war auch Prairie Johnsons Auftauchen: ihre Adoptiveltern mussten auf einem Internetvideo mit ansehen, wie ihre Tochter nach ihrem Verschwinden sieben Jahre zuvor nur im Nachthemd bekleidet von einer Brücke springt. Im Krankenhaus erkennt sie ihre Eltern auf den ersten Blick nicht – erst als sie das Gesicht ihrer Adoptivmutter berührt: als sie verschwand, war Prairie noch blind. Es ist das erste in einer Reihe von Rätseln, die «The OA» innerhalb von kürzester Zeit aufwirft. Denn was Showrunner Brit Marling und Zal Batmanglij hier entwerfen, ist mehr als nur eine einfache Entführungsgeschichte – es geht um unerklärliche Bereiche zwischen Leben und Tod.

«The OA» gelingt dabei ein interessanter Balanceakt. Die Netflix-Serie als reine Mystery-Serie abzustempeln, würde der Produktion nicht gerecht werden. In ausgedehnten Rückblenden, die einen Großteil der ersten Staffel einnehmen, erfährt der Zuschauer Prairies extrem bedrückende Erfahrungen der vergangenen sieben Jahre. Leid und Verzweiflung – aus emotionaler Sicht wird hier einiges aufgefahren. Schon mit einfachsten Mitteln wie einem lauten Schlossknacken gelingt es den Machern, dem Zuschauer einen Kloß in den Hals zu treiben.

Doch der Mystery-Teil von «The OA» spielt dabei keine untergeordnete Rolle. Mit dem kleinen Einmaleins des Mystery-Handbuchs erzeugen die Autoren Spannung: viele kleine Rätsel, die alle einer großen Logik folgen – stets mit genügend Antworten, um den Zuschauer nicht zu enttäuschen, aber immer auch neu aufgeworfenen Fragen. Aussagen wie „We all died more times than I can count” füttern die Neugier der Zuschauer. Und wer ist “Wir”? Warum kann sie wieder sehen? Woher kommen die Narben auf ihrem Rücken? Unterstützt wird das Geheimnisvolle und das Unbekannte vor allem in den ersten Folgen durch eine Kameraarbeit nah am Körper. Sehr unruhig, sehr nah an den Gesichtern der Charaktere – so wird man als Zuschauer oft im Unklaren über die Umgebung gelassen und erfährt ein beklemmendes Gefühl, eine Art Kontrollverlust.

«The OA» gelingt es, dem Mystery-Plot eine innere Logik zu verleihen. Die Handlung wird konsequent erzählt, wenn man mal von den letzten 20 Minuten der Staffel absieht, in denen die Serie etwas aus dem Konzept gerät. Ohne Vorwarnung kommt zum Schluss die zeitliche Abfolge durcheinander und die Handlung mündet in einem erstaunten „Halt… Was?!“. Doch über das irritierende Ende lässt sich problemlos hinwegschauen, da Brit Marling und Zal Batmanglij, die schon bei «The East» und «The Sound of My Voice» zusammengearbeitet haben, insgesamt eine runde und spannende Story abliefern. Gerade wenn die Serie Gefahr läuft, ihre Längen zu bekommen, passiert erneut etwas Dramatisches.

Doch nicht nur als Showrunnerin macht Brit Marling einen guten Job: die in Illinois geborene Schauspielerin übernimmt ebenfalls die Hauptrolle in «The OA» und verkörpert die verstörte, jedoch loyale und mitfühlende Prairie durchweg stark. Dabei gelingt Marling ein guter Balanceakt zwischen der verletzlichen und starken Prairie. Auffallend ist nämlich, dass Prairie sich nicht verstört in ihrem Zimmer verkriecht, sondern nach ihrer Rückkehr eine gewisse Zielstrebigkeit an den Tag legt. Sie bastelt an einem Plan, über dessen Ziel man lange im Unklaren gelassen wird. Für dessen Verwirklichung braucht sie fünf weitere Menschen, denen sie nachts in einem verlassenen Haus die Geschichte der vergangenen sieben Jahre erzählt. So fungiert Prairie als Off-Stimme in den früheren Zeitebene, ohne die vierte Wand zu durchbrechen – ein interessanter erzählerischer Kniff. „Ich bitte euch jetzt, eure Augen zu schließen. Ich möchte, dass ihr euch all das vorstellt, was ich euch erzähle. Als ob ihr selbst da wärt. Als ob ihr bei mir wärt. Als ob ihr Ich wärt.“

Doch die Tiefe, die die Hauptprotagonistin hierdurch erhält, steht im deutlichen Kontrast zur Charakterzeichnung der fünf Freunde. Die Nebencharaktere aus der Gegenwart sind vornehmlich eindimensional: der im Innern gutherzige Billy, der aber nach außen hin den typischen Schul-Schläger gibt. Dann der begabte Schüler mit Stipendium, der in der Freizeit aber zwei Jobs hat, um seine Familie über Wasser zu halten. Die schüchterne Lehrerin, die sich nicht durchsetzen kann. Und über die verbleibenden zwei Nebencharaktere lässt sich noch weniger sagen. Trotz der eigenen kleinen Storylines bleiben die fünf Freunde aus der Gegenwart farblos – so sehr, dass man teils erst gegen Ende der Staffel bewusst realisiert, wie die Charaktere überhaupt heißen. Interessanterweise begreift Prairie gegen Ende der Staffel ebenfalls, dass sie ihre fünf Mitstreiter eigentlich kaum kennt – welch Ironie.

Über die Charaktere in der Vergangenheit lässt sich dasselbe nicht feststellen – mehr möchte man an dieser Stelle nicht verraten, da sonst zu viele relevante Informationen über die Handlung unvermeidbar wären. Letztlich muss man «The OA» eine positive Bilanz ausstellen: die insgesamt acht Episoden kommen eher als langer Film daher und sind beinahe durch die Bank weg fesselnd. Dass die Nebencharaktere im Vergleich zur Hauptdarstellerin und der gesamten Geschichte eher blass bleiben, ist nur ein kleiner Kritikpunkt. «The OA» ist ein runder Mystery-Thriller, den man aber nicht mit anderen Netflix-Serien wie «Stranger Things» oder «Sense8» vergleichen darf. Trotzdem dürften die Fans dieser beiden Produktionen auch an «The OA» Gefallen finden.

«The OA» ist ab sofort verfügbar bei Netflix.
16.12.2016 09:07 Uhr  •  Robert Meyer Kurz-URL: qmde.de/89984