«3%» bei Netflix: «Hunger Games» für Fortgeschrittene

Tausende junge Menschen, und nur drei Prozent schaffen es: In perversen Prüfungen wird die Elite des Landes gesucht. «3%» führt die «Hunger Games»-Idee auf eine psychologische Ebene – und gehört zu den Serien-Geheimtipps des Jahres.

Cast & Crew

  • Idee: Pedro Aguilera
  • Regie: César Charlone u.a.
  • Darsteller: Bianca Comparato, João Miguel, Michel Gomes, Vaneza Oliveira u.a.
  • Ausf. Produzenten: César Charlone, Tiago Mello
  • Produktion: Boutique Filmes für Netflix
  • Sprache: portugiesisch (engl. Untertitel)
  • Folgen: 8 (je ca. 45 Min.)
Man wartet anfangs darauf, dass es weitergeht in der Story. Bis man irgendwann merkt: Diese ganze Serie ist ein Test.

«3%» ist die erste brasilianische Netflix-Produktion, eine weitere also für die Internationalisierung der Marke. Die wichtigsten Märkte des Streaming-Giganten bekommen Originalstoffe aus eigenen Landen, auch Deutschland im nächsten Jahr. Aber auch bei diesen Produktionen ist Netflix bestrebt, nicht nur die direkte Zielgruppe anzusprechen: Potenziell soll jede Serie jedem Kunden gefallen können, weltweit; der appeal muss universell sein.

So ist es auch bei «3%», einer faszinierenden Geschichte, die nur vordergründig als SciFi-Format taugt. Die Prämisse ist so uralt wie das Genre selbst: In der Zukunft lebt ein Großteil der Menschen in desloaten Armutsverhältnissen. Ihnen bleibt nur eine Chance, dem lebenslangen Schicksal zu entkommen: Jeder Bürger kann im Alter von 20 Jahren eine Prüfung antreten, in der er sich mittels verschiedener Eignungstests beweisen muss. Besteht man, darf man sein Leben auf der besseren Seite der Welt fortführen: auf einer idyllischen Insel, die von Fortschritt geprägt ist und nicht von Elend. Von Überfluss und nicht von Hunger. Der einzige Haken an der Sache: Die Prüfung bestehen immer nur die drei besten Prozent eines Jahrgangs.

Mit dieser Story steht «3%» in der Tradition klassischer Science-Fiction-Stoffe um den krassen Gegensatz von Arm und Reich, von sozialen Klassen, wie beispielsweise «Blade Runner», «Total Recall», «Metropolis» oder zuletzt «Elysium». In «3%» geht es zwar nicht um Leben und Tod wie in ähnlichen Storys – aber wer die Prüfung nicht besteht, lebt in so erbärmlichen Verhältnissen weiter, dass der Tod vielleicht der mildere Ausweg wäre. Anfangs denkt man, die Prüfungen auf einem riesigen Testgelände mit tausenden von Kandidaten sind nur ein Teil der Story. Irgendwann in Folge 2 oder 3 sind die Entscheidungen gefallen, und es werden die Geschichten derjenigen weitererzählt, die es geschafft haben auf die Insel – und derjenigen, die es eben nicht geschafft haben.

«3%» bei Netflix: Kampf in den Köpfen


Doch «3%» spart diese logische Handlungsfolge aus – zumindest in Staffel eins. Man weiß wohl um den Umstand, dass solche Storys schon (zu) oft dargestellt wurden, und zu oft zu einfältig. Nein, die Geschichte von «3%» fokussiert sich komplett auf die entscheidenden Tage der 20-Jährigen, die im Testkomplex ihr Schicksal entscheiden. Alle Folgen handeln von den Testprozeduren, die man alle bestehen muss – in der Gruppe und allein, mit Persönlichkeitsinterviews, sportlichen Herausforderungen, escape the room-Prüfungen, Logikpuzzles, mathematischen und psychischen Aufgaben. Schließlich soll nur die Elite die Auswahl bestehen, nur die besten drei Prozent in jeglicher Hinsicht.

Damit dockt «3%» wiederum an Stoffe an wie «Battle Royale», «Cube», «Der Kreis» oder das berühmte «The Hunger Games». Wenn diese Stoffe gut ausgearbeitet sind, dann bauen sie eine ungemeine Spannung auf: Denn dann geht es nicht mehr nur um die Tests an sich, sondern eher darum, wie die Kandidaten sich in ihrem sozialen Mikrokosmos organisieren: Wer verrät wen, wer kooperiert mit wem, wer ist hinterhältig und wem kann man trauen? Action sucht man glücklicherweise vergeblich, der Kampf findet in den Köpfen statt – eine erwachsenere Version der «Hunger Games», wenn man so will.

Diese Sozialstudien sind in «3%» großartig ausgearbeitet und machen die Serie abwechslungsreich. Sie konzentriert sich auf fünf bis sechs Charaktere unter den tausenden Kandidaten – von diesen Hauptfiguren lernen wir in punktuellen Rückblenden mehr kennen, sie verfolgen wir in den verschiedenen Prüfungen allein und als Gruppe. Von Anfang an wissen wir, dass sich unter diesen Kandidaten ein Deserteur befindet: Er hat das Ziel, das perverse jährliche Prüfungsspektakel um ein besseres Leben zu stoppen und die Organisatoren des Auswahlprozesses umzubringen.

Auch wenn sich die charakterliche Tiefe nur langsam entwickelt, ist «3%» ein komplex erzähltes Drama, das uns mit den Kandidaten mitfiebern lässt. Die schauspielerischen Leistungen sind gut, nur manchmal zu plakativ und pathetisch. Aus dem wohl vergleichsweise niedrigen Budget macht die Netflix-Produktion viel: Die Sterilität des Testkomplexes, die abstrakten Prüfungskammern, die verstörend-mechanische Klangkulisse, alles erinnert an den Kultfilm «Cube». Insgesamt ist «3%» eine Achterbahnfahrt, von der man nicht weiß, wann die nächste Kurve, wann der nächste freie Fall kommt – ein Serien-Geheimtipp aus dem Nichts.
28.11.2016 11:33 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/89623