Des deutschen Kinos Stiefkind: Der Genrefilm

Das deutsche Genrekino hat ein riesiges Imageproblem. Nicht einmal in einem solch erfolgreichen Horrorjahr wie 2016 ziehen nationale Produktionen abseits von RomCom und Weltkriegsdrama. Woran liegt das? Kinoexpertin Antje Wessels versucht sich an einer Analyse.

Die erfolgreichsten deutschen Genrefilme der letzten zehn Jahre

  • «Das Parfum»: 5,6 Millionen Besucher (2006)
  • «Die Welle»: 2,7 Millionen Besucher (2008)
  • «Krabat»: 1,5 Millionen (2008)
  • «Tintenherz»: 1,3 Millionen (2008)
  • «Neues vom Wixxer»: 884.093 Besucher (2007)
  • «Who Am I - Kein System ist sicher»: 806.117 Besucher (2014)
  • «Schutzengel»: 712.230 Besucher (2012)
  • «Nicht mein Tag»: 669.491 Besucher (2014)
  • «Saphirblau»: 545.362 Besucher (2014)
  • «Smaragdgrün»: 527.955 Besucher (2016)
In dieses Ranking miteinbezogen, wurden ausschließlich deutsche Produktionen. Filme mit deutscher Beteiligung bleiben außen vor.
Wir müssen reden! Wir müssen über ein Thema reden, über das deshalb nicht oft gesprochen wird, weil man sich nie gern mit etwas auseinander setzt, was man selbst verbockt hat. So lebt es sich zwar recht ungeniert, wenn der Ruf erst einmal ruiniert ist, doch in Wirklichkeit würde man rückblickend ja schon gern das ein oder andere ändern. Zumindest dann, wenn man ein deutscher Filmemacher ist, der in Zeiten, in denen ein «Tschiller: Off Duty» mit gerade einmal 277.256 Besuchern den aktuell erfolgreichsten Genrefilm 2016 darstellt, unterstützende Produktionsfirmen sucht, um ein Projekt finanziert zu bekommen, das weder RomCom, noch Kinderfilm, Krimi oder Weltkriegsdrama ist. 277.256. Darüber können Detlev Buck («Bibi & Tina – Mädchen gegen Jungs», knapp zwei Millionen Besucher), Florian David Fitz («Der geilste Tag», 1,7 Millionen) und sogar Maren Ade («Toni Erdmann», knapp 600.000 Besucher) nur müde lächeln, die derzeit als Urheber der erfolgreichsten nationalen Produktionen des diesjährigen Kinojahres fungieren. Ein Einzelfall? Ist 2016 vielleicht einfach nicht das Jahr für Thriller, Horror und Fantasy aus deutschen Landen? Und das, obwohl es schon lange nicht mehr so vielfältig in hiesigen Genregefilden zuging, wie in den vergangenen zehn Monaten? Obwohl wir, wie in keinem anderen Jahr, in Massen in die Lichtspielhäuser rennen, um uns «Conjuring 2», «Lights Out» oder «Don’t Breathe» anzuschauen? Und obwohl mit Filmen wie «Der Nachtmahr» oder «Der Bunker» auch Liebhaber experimenteller Kost vollends auf ihre Kosten kommen dürften? Nein, wir sprechen hier eben nicht von einem Einzelfall. Deutsche Kinogänger scheinen Genrefilme aus ihrem eigenen Land kategorisch abzulehnen. Aber warum? Wo ist eigentlich das verdammte Problem, wenn ein «Tschiller: Off Duty» bessere Actionunterhaltung liefert als der letzte «Bond»-Film und sich ein «Unfriend» als einer der Wegbereiter des derzeitigen Digitalhorror-Subgenres auch über die Landesgrenzen hinaus etablieren konnte? Wer hat den Ruf des deutschen Genrekinos so sehr ruiniert, dass nicht einmal mehr ungenierte Experimente ziehen, um sich seine verdienten Zuschauer zurückzuholen?

Erfolgsgeheimnis Romanvorlage


Um eine Schuld-Frage zu beantworten, müssen erst einmal die damit einhergehenden Auswirkungen klar definiert werden. Das ist in diesem Fall aber gar nicht so einfach, wenn man sich einmal die Zahlen anschaut, die das deutsche Genrekino in den vergangenen zehn Jahren geschrieben hat. Wie von uns zusammengetragen (siehe Infobox oben rechts), zieht manch eine Anti-RomCom-Produktion nämlich doch. Interessanterweise ist das immer dann der Fall, wenn jener eine bekannte Buchvorlage voraus geht. Die Leinwandadaption von «Das Parfum», in gewisser Weise so etwas wie die deutsche Kostümfilm-Antwort auf «Das Schweigen der Lämmer», lockte 2006 knapp sechs Millionen Besucher in die Kinos. «Die Welle», basierend auf einem der in Schulen meistgelesenen Jugendromane, erreichte zwei Jahre später immerhin noch rund die Hälfte dieser Zuschauerzahlen. Dann wird es aber auch schon dünn. Dem Jugendfantasyepos «Tintenherz» gelang im selben Jahr als letztem deutschen Genrefilm der vergangenen zehn Jahre der Sprung über die magische Eine-Million-Besucher-Grenze. Und wir würden noch in viel niedrigeren Zuschauerzahlgefilden fischen, würden wir Genreclashes wie die Thrillerkomödie «Neues vom Wixxer» oder Fantasyromanzen wie die «Edelstein-Trilogie» nicht in unsere Aufzählung mit aufnehmen. Warum also nicht einfach weiter munter bekannte Bücher für die Leinwand adaptieren? Ganz so, wie es bis ins Jahr 2008 doch ganz hervorragend funktioniert hat? Zumal mit Genreelementen versehene Romane wie «Der Medicus» (3,6 Millionen Besucher, 2013) auch noch viele Jahre später bewiesen haben, dass dieser Schachzug immer noch zieht.

Genau diesen Schritt ging kürzlich «Zeit der Kannibalen»-Regisseur Johannes Naber. Dieser nahm sich direkt eines der deutschen Volksmärchen überhaupt vor und inszenierte «Das kalte Herz» mit «Victoria»-Star Frederick Lau in der Hauptrolle, einem der angesagtesten Jungschauspieler seiner Generation. Dass er dafür den Zuspruch von Produzenten und Studios bekam, ist nicht selbstverständlich, wenn man sich auf ein inszenatorisches Territorium vorwagt, dass hierzulande lange Zeit Niemand betreten hat. Selbst im Jahr 2012, als Hollywood und Zuschauer mit «Spieglein, Spieglein», «Snow White and the Huntsman» oder «Hänsel & Gretel: Hexenjäger» Märchen und deren Neuinterpretationen für sich entdeckten, lag dieser Bereich des deutschen Fantasykinos brach. Das muss man sich einmal vorstellen: Da wird auf internationaler Ebene mit viel Erfolg und zeitgemäß deutsches Geschichtengut inszeniert, aber hierzulande wird dieser Trend einfach mal verschlafen. Mittlerweile ist der Märchenhype vorbei. Die «Snow White»-Fortsetzung «The Huntsman and the Ice Queen» ist rund um den Erdball gefloppt. Ob der visuell berauschende und erzählerisch solide «Das kalte Herz» aus genau diesem Grunde ebenfalls baden gehen wird, bleibt abzuwarten. Gleichzeitig steht Johannes Nabers insgesamt geglückter Ausflug in fantastische Genregefilde aber stellvertretend für ein Problem, das sich in den vergangenen Jahren immer häufiger auf dem deutschen Kinomarkt beobachten ließ. Manchmal geht es nämlich gar nicht nur um die Qualität (auf diesen entscheidenden Faktor kommen wir später noch zu sprechen). Des Öfteren ist es einfach nur mieses Timing, das einen eigentlich vorprogrammierten Erfolg im Keim erstickt.

Timing ist alles!


Dass Geschichten wie «Krabat» und «Die Welle» zeitlos sind, lässt sich allein schon daran erkennen, wie viele Jahre diese Vorlagen bereits überdauert haben. Unmengen von Schulklassen mussten sich den Stoff im Deutsch-, oder Geschichtsunterricht – im Idealfall voller Enthusiasmus – zu Gemüte führen. Wenn sich dann die Gelegenheit bietet, ebenjene Geschichte nach neuesten technischen Standards auf der Leinwand zu genießen, sind gute Zuschauerzahlen vorprogrammiert. Anders sieht es bei aktuellen Trends aus. Diese kommen und gehen und letzteres meist schneller, als den Filmverleihern lieb ist. Als im Jahre 2001 der Jugendfantasyhype von der aller ersten «Harry Potter»-Verfilmung losgetreten wurde, dauerte es zwei Jahre, bis Cornelia Funke ihre Tintenwelt-Trilogie mit «Tintenherz» begann und noch einmal fünf Jahre, eh es mit der wirklich erfolgreichen Verfilmung dieses Buches einen vergleichbaren Genrebeitrag gab. Und dazwischen? Nichts! Deutsche Filmemacher und Produktionsfirmen ließen die Jugendliteratur- und -Filmbewegung einfach an sich vorbei ziehen. Dasselbe Muster ließ sich während des Fantasy-Romanzen-Trends beobachten, der von der «Twilight»-Saga 2009 ins Leben gerufen wurde. Um «Rubinrot» auf den Weg zu bringen, brauchte man vier Jahre.

Die Hypes aus Übersee nachzuahmen, mag zwar keine kreative Offenbarung sein. Es stellt aber immer auch die Möglichkeit dar, in einen Markt vorzudringen, der vor allem den Konsumenten bislang verschlossen blieb. Da die junge Generation in ihrer noch nicht allzu festgefahrenen Denke dafür noch am empfänglichsten ist, bieten sich gerade Jugendhypes an, um ein eingeschlafenes Genre wieder zum Leben zu erwecken. Es wäre also ein Leichtes gewesen, auf den erfolgversprechenden Zug aufzuspringen, indem man den Teens einfach das bietet, wonach sie verlangem. Getreu dem Motto: Ihr wollt (romantische) Fantasy? Ihr kriegt (romantische) Fantasy! Aus welchem Lande diese stammt, ist da zumindest der Zielgruppe egal. Doch der deutsche Filmemarkt ließ sich nicht bloß hier mehr als eine Chance durch die Lappen gehen. Gelang es einem Studio dann doch mal, mit reichlich Verspätung ein Projekt auf den Markt zu bringen, dessen Halbwertszeit den aktuell anhaltenden Trend zumindest anschneidet, scheiterten ebendiese Projekte zumeist an anderer Stelle; Stichwort: Qualität.

Wir wollen an dieser Stelle gar nicht lange in die ewig gleiche Kerbe schlagen, das deutsche Kino könne qualitativ generell nicht mit jenem aus anderen Ländern – insbesondere dem US-amerikanischen – mithalten. Diese Verallgemeinerung tut der Vielfältigkeit nationaler Filmgefilde nämlich absolut Unrecht. Eine Sache lässt sich allerdings nur schwer unter den Teppich kehren: Das Prädikat „made in Germany“ ruft bei vielen Kinogängern den Gedanken an eine Einschränkung qualitativer Vorzüge hervor. Und wenn ein Film dieses Vorurteil dann doch einmal nicht bestätigt, wird unsereins gern dazu verleitet, diese Tatsache damit zu beschreiben, der Film hätte ja „so ganz und gar nicht deutsch“ gewirkt. Reichen der Look, die schauspielerischen Fähigkeiten und die technische Komponente des deutschen Kinos also generell nicht an großbudgetierte Produktionen aus Übersee heran?

Die Sache mit dem Budget


In einem Punkt stimmt es und man kann hier noch nicht einmal irgendwem einen Strick daraus drehen: Produktionskosten wie 120 Millionen US-Dollar für einen «Jason Bourne»-Film aufzubringen, mag einem Konzern wie Universal Pictures und den zugehörigen Produzenten möglich sein, da die anschließende Vermarktung weltweit erfolgt. Hierzulande sind das hingegen absolut utopische Zahlen. Zum Vergleich: Christian Alverts «Tschiller: Off Duty» musste mit einem Budget von gerade einmal 8 Millionen Euro auskommen. Doch obwohl der Kino-«Tatort» aufgrund seiner inhaltlichen Ausführung für ein äußerst gespaltenes Zuschauerfeedback sorgte, waren sich in einem Punkt trotzdem alle einig: Til Schweigers Leinwand-Eskapaden als Ermittler Nick Tschiller waren die Beschränkungen innerhalb der Produktionskosten optisch nicht anzusehen. Stellt man die «Edelstein-Trilogie» zum Vergleich daneben, die auf ein ähnlich niedriges Budget zurückgreifen musste, fällt der qualitative Unterschied sofort ins Auge. In allen Belangen, von den Computereffekten über das Setting bis hin zum Kostümdesign haben die visuellen Qualitäten hier allenfalls den Charme eines Fernsehformats, was im Jahre 2016 eigentlich kaum noch stimmt, da immer mehr Geld für gute TV-Serien ausgegeben wird. Es geht also im Grunde gar nicht darum, wie viel Geld man letztlich zur Verfügung hat, sondern darum, was man damit macht. Hier heißt es: Prioritäten setzen. Sonst sieht man einem lieblos animierten Wasserspeier (Stichwort: «Saphirblau») eben auch sehr genau an, dass das Budget hier bereits aufgebraucht war.

Wenn die Zuschauer etwas nicht wollen, dann wird es zwangsläufig schwerer für Filmemacher, Ideen aus diesem stiefmütterlich behandelten Genresegment bei den Geldgebern durchzudrücken; mittlerweile sind Projekte aus den Bereichen Fantasy, Horror und Thriller zum Risiko geworden, da nicht gesichert ist, dass diese wenigstens ihre Produktionskosten wiedereinspielen und im Idealfall auch noch Gewinn machen. Trotzdem gab es sehr wohl einige von ihnen, die auch während der Zeit, als der Ruf dieser Filmsparten schon längst von den Zuschauern geformt (und von den Kritikern bestätigt) wurde, ihren Weg auf die Leinwand fanden. Der Vampir-Thriller «Wir sind die Nacht» etwa, der ohne jedwede größere Werbekampagne und irgendeinen damaligen Schauspiel-Überpromi gerade einmal etwas mehr als 100.000 Besucher anzog. Baran bo Odars Hacker-Thriller «Who Am I» hatte sogar das Glück, ein Jahr nach «Fack ju Göhte» mit Elyas M’Barek werben zu können und scheiterte trotzdem an der Eine-Million-Marke. Von Simon Verhoevens Facebook-Horror «Unfriend» nahmen zwar immerhin knapp 300.000 Besucher Notiz; darüber hinaus stieß der Film auch bei Kritikern auf wohlwollende Reaktionen, doch ob der vollständig auf Englisch gedrehte Film dazu beitragen kann, das Image des deutschen Genrekinos zu stärken, wenn kaum einer realisiert, dass das hier tatsächlich eine durch und durch deutsche Produktion ist, ist fraglich. Überhaupt zieht es immer mehr nationale Filmemacher in ausländische Gefilde, um sich dort endlich so austoben zu können, wie es hierzulande nicht möglich wäre. Dass «Die Welle»-, und «Wir sind die Nacht»-Regisseur Dennis Gansel als Deutscher die «The Mechanic»-Fortsetzung realisiert hat, dürfte nur eingefleischten Filmliebhabern bekannt sein. Übrigens: Auch US-Blockbuster wie «R.E.D.» (Robert Schwentke) oder «Independence Day» (Roland Emmerich) wurden von Deutschen inszeniert, denen «Krabat»-Regisseur Marco Kreuzpaintner 2018 für sein Fantasydrama «Undying» nach Hollywood folgt.

Eine utopische Zukunftsvision?


Wir halten also fest: Deutsches Genrekino funktioniert immer dann, wenn es auf einer bekannten Romanvorlage basiert. Wenn es das allerdings nicht tut, wird es schwierig, denn in der Vergangenheit kam es zu oft vor, dass die Produktionen in puncto Qualität so weit hinter ihren US-amerikanischen Pendants zurück blieben, dass mit dem „made in Germany“-Siegel nicht mehr geworben werden konnte. Zum Einen, weil man auf Biegen und Brechen versuchte, ausländisches Kino mit wesentlich kleineren, finanziellen Mitteln nachzuahmen, zum Anderen, weil man es darüber versäumte, dem deutschen Genrekino eine eigene Identität zu geben. Im Ansatz erfolgreich kann man heutzutage also nur noch dann sein, wenn man einen Film inszeniert, der alles andere als deutsch aussieht. Wenn wir das positiv betrachten und als Synonym für "hochwertig" ansehen, sei gegen diese Entwicklung an dieser Stelle nichts einzuwenden. Das funktioniert allerdings nur, wenn auch tatsächlich ausreichend finanzielle Mittel investiert werden; die Inszenierung eines Genrefilms darf für die deutschen Studios nicht länger wie ein Experiment gehandhabt werden!

Wie man das hinbekommt? Verleiher und Produzenten müssten in den sauren Apfel beißen und ebenso selbstverständlich wie im Falle diverser deutscher RomComs Geld in die Hand nehmen, viel Marketingaufwand betreiben und hohe Kopienanzahlen zur Verfügung stellen, was sich in den ersten Monaten vielleicht noch nicht einmal rechnen würde. Doch auch ein Genrefilm kann nur gut sein, wenn ihm die besten Entstehungsumstände ermöglicht werden. Von einem guten Film erfährt der Kinogänger nur dann, wenn auch für ihn geworben ist und ein Ticket dafür löst er nur gern, wenn er dafür nicht immer erst in die nächstgrößere Stadt fahren muss, um ihn überhaupt sehen zu können. Und der Filmgourmet will all das auch gar nicht zehnmal im Monat. Lasst Qualität vor Quantität walten und realisiert ein bis zwei Herzensprojekte leidenschaftlicher Genrefilmer im Jahr, die hierfür dann aber auch jede Unterstützung verdient haben, die es gibt. Dann wird das Horror-, Thriller- oder Fantasykino zwar immer noch nicht von allen geliebt. Doch die, die es lieben, greifen dann vielleicht doch ganz gern mal zu einem Vertreter aus deutschen Landen, anstatt sich immer nur bei Good Old Hollywood zu bedienen.
12.10.2016 10:00 Uhr  •  Antje Wessels Kurz-URL: qmde.de/88643