«Terror»: Von Schirach stellt die experimentelle Moralfrage – und lässt die Zuschauer abstimmen

Die Kritiker: Das Fernsehexperiment im Ersten will wissen, ob ein Flugzeug abgeschossen werden darf um 70.000 Menschen zu retten. Die Zuschauer dürfen dabei entscheiden.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Burghart Klaußner («Das weiße Band») als Vorsitzender Richter, Martina Gedeck («Der Baader Meinhof Komplex») als Staatsanwältin Nelson, Florian David Fitz («Vincent will Meer») als Angeklagter Koch, Lars Eidinger («Alle anderen») als Verteidiger Herr Biegler, Jördis Triebel («Emmas Glück») als Nebenklägerin Meiser, Rainer Bock («Das weiße Band») als General Lauterbach


Hinter den Kulissen:
Regie: Lars Kraume, Buch: Oliver Berben, Ferdinand von Schirach und Lars Kraume nach dem gleichnamigen Theaterstück von Ferdinand von Schirach, Musik: Christoph M. Kaiser und Julian Maas, Kamera: Jens Harant, Schnitt: Barbara Gies, Produzent: Oliver Berben, Producerin: Heike Voßler, Produktion: Moovie

Es ist eine Frage, die sich spätestens nach dem 11. September wohl so mancher gestellt hat: Darf man das Leben von wenigen beenden, um dafür eine viel größere Zahl von Menschen zu retten? Und wie sieht es aus, wenn ein Flugzeug zielsicher auf ein Stadion zusteuert? Darf das Luftschiff dann abgeschossen werden, um die Stadionbesucher zu retten? Würden die Insassen nicht ohnehin sterben? So einfach und doch so komplex ist die Frage, die «Terror – Ihr Urteil» im Ersten stellt. Der Film, der auf Grundlage des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach entstand, stellt sie anhand einer fiktiven Situation.

Ein Lufthansa-Flugzeug ist unterwegs nach München, als die Entführung gemeldet wird. Offensichtlich befindet es sich auf dem Weg in Richtung Allianz Arena, die anlässlich eines DFB-Länderspiels mit 70.000 Menschen voll besetzt ist. Mehrere Versuche, den Unglücksfall zu verhindern scheitern. Und schließlich schießt Bundeswehrpilot Lars Koch die Passagiermaschine ab – alle 164 Menschen im Inneren sterben.

Nun also sitzt Lars Koch auf der Anklagebank. Zu diesem Zeitpunkt setzt die Produktion auch erst so richtig an, wie bei einem Kammerspiel findet das Geschehen quasi ausschließlich im Gerichtssaal statt. Die Theaterbasis des Stücks ist also nicht zu verkennen. Hinter den Richtern allerdings tut sich durch die großen Fenster der Reichstag auf. Warum die Verhandlung nun ausgerechnet im Herzen Berlins stattfinden muss? Fraglich. Verzeihlich ist das aber insofern, als dass die Stadt nicht wirklich eine Rolle spielt.

Beklemmende Situation mit spannenden Figuren


Steckbrief

Frederic Servatius schreibt seit 2013 für Quotenmeter. Dabei ist er zuständig für Rezensionen und Schwerpunktthemen. Wenn er nicht für unser Magazin aktiv ist, arbeitet er im Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder schreibt an seinem Blog. Immer wieder könnt Ihr Frederic auch bei Quotenmeter.FM hören. Bei Twitter ist er als @FredericSrvts zu finden.
Die emotional eindrückliche Atmosphäre in der beklemmenden Gerichtssituation aber wird überzeugend dargestellt, lediglich gestört durch ein eventuell zu extensiv aber damit wohl realistisch dargestelltes Gerichtsauditorium. So sorgt vor allem die inhaltliche Reduktion auf die wenigen wichtigen Charaktere für eine intensive Auseinandersetzung mit den relevanten Fragen. Da ist eben jener Angeklagte Koch, der sich schon vor dem Ernstfall dutzende Male damit auseinandergesetzt hat, ob er schießen würde oder nicht, sogar referiert hat er darüber. Die Antwort ist für ihn klar. Obschon das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz, das den Abschuss erlaubt hätte, verworfen hat, wusste Koch: Er würde schießen. Nicht aus moralischer Überlegenheit, sondern aus Überzeugung. Doch die durchaus arrogante aber durchdachte Art von Koch macht es einem zusätzlich schwer, in die Figur reinzuschauen – was Akteur Florian David Fitz großartig transportiert.

Dann ist da die Staatsanwältin, gespielt von Martina Gedeck, die natürlicherweise ein Stück weit den Gegenpart übernimmt. Sie stellt die Rechtsdogmen des Grundgesetzes, die Menschenwürde als solche, schon aus Prinzip über etwaige moralische Überlegungen. Und sie stellt interessante Fragen. Etwa, ob Koch auch geschossen hätte, wenn seine Frau und sein Kind im Flugzeug gewesen wären. Doch sie ist nicht unsachlich, nicht undifferenziert, sondern sieht zugleich die Gründe für Kochs Handeln. Eine wie für den Theaterschauspieler gemachte Figur nimmt unterdessen Lars Eidinger ein: Als Verteidiger ist zwischen moralisch fundierter Wut und scheinbar hoffnungsloser Resignation vieles möglich. Sogar launige Kommentare werden in die gedämpfte Situation gekonnt eingepflegt.

Relevant ist ferner die Befragung des Generals Lauterbach, der einräumen muss, dass aus Entfernung trotz ausreichender Zeit keine Evakuierung des Stadions vorgenommen wurde – eine Maßnahme mit der die Aktion von Lars Koch gar nicht mehr notwendig gewesen wäre. Vor allem aber ist es der Vorsitzende Richter, dessen Rolle abwägend und zugleich offen, aber niemals unkritisch ist. Und er durchbricht die vierte Wand – hier erst wird der experimentelle Charakter des Films deutlich. Als Schöffen spricht der Richter die Zuschauer an. Schon zu Beginn macht er ihnen klar: Alle, die hier zuschauen entscheiden. Und müssen genau abwägen.

Zum Ende hin wird der Zuschauer dann eben nochmal angesprochen – und zum Urteil aufgefordert. Nach etwa 85 Minuten Laufzeit und vor der Urteilsfindung wird der Film für zehn Minuten unterbrochen. Für alle, die zur Ausstrahlung am Montag vor dem TV sitzen bietet das die Möglichkeit, eine Entscheidung zu fällen. Ist der Täter schuldig oder gehört er freigesprochen? Anschließend erst verkündet das Gericht die Entscheidung. Eine spannende Angelegenheit, die Aufschluss über die moralischen Vorstellungen geben soll – und es in den Theatern der Nation schon getan hat.

Das Urteil? Natürlich noch unklar.


Nun ist diese Kritik dann nur mäßig aussagekräftig, wenn man allein das Resultat als einzig relevantes Element ansieht. Wie entscheiden die Schöffen letztendlich, wie lautet also das Urteil? Das aber kann eine Vorab-Kritik verständlicherweise nicht beantworten. Interessant aber ist schon ein Blick auf die Ergebnisse, die die Publika bei den verschiedenen Theaterstücken erzeugten. Zum einen, ist die Zahl der votierten Freisprüche nach den Anschlägen von Paris drastisch angestiegen. Zum anderen hat eine Kultur ein gänzlich konträres Ergebnis zu allen anderen: Die Japaner sprachen den Angeklagten in jeder der vier Vorstellungen, die dort stattfanden mehrheitlich schuldig (insgesamt 569 Stimmen für Freisprüche zu 958 Schuldsprüchen, Ergebnisse bis 9. Oktober berücksichtigt).

Alle anderen Länder haben mindestens mehrheitlich für einen Freispruch votiert. In Ungarn (zwei Vorstellungen, 131 zu 63 Stimmen) und der Schweiz (25 Vorstellungen, 2424 zu 882 Stimmen) erfolgte sogar bei jeder Aufführung ein Freispruch. 17 Freisprüche bei 18 Verhandlungen gab es in Österreich (1582 zu 1049 Stimmen), in Venezuela wurde ebenfalls das gleiche Resultat bei 3321 zu 1968 Stimmen erzielt. Und schließlich sind da die Deutschen, die bei 436 Aufführungen 409 Mal auf Freispruch plädierten. 84.695 Personen stimmten hierzulande für Freispruch, immerhin 56.971 für eine Verurteilung. Insgesamt endeten 93,4 % aller Fälle mit Freispruch – nur 60 % der Stimmen aber votierten mehrheitlich gegen eine Verurteilung, in Summe wurden 154.613 Stimmen abgegeben. Eindeutig ist also dennoch nichts. Nicht unwahrscheinlich allerdings, dass auch das Fernsehpublikum für den Freispruch votieren wird, selbst wenn die Struktur des Theaterpublikums von der der Zuschauer vor den Empfangsgeräten abweichen dürfte.

Aber vielleicht spielt das auch eigentlich gar keine Rolle und es geht letzten Endes nur darum, wie man für sich persönlich die Frage beantwortet. Wie hätte man selbst gehandelt? Was ist richtig? Sind Menschenwürde oder Menschenleben wichtiger? Gewinnt die Moral oder das Recht? Gibt es überhaupt Antworten auf diese Fragen? Während wir also hoffen, dass wir diese Fragen nicht tatsächlich beantworten müssen, bleibt vor allem zu konstatieren: Ferdinand von Schirach hat eine großartige Grundlage gelegt, die zurecht erfolgreich durch die Theater dieser Welt wandert. Diese Grundlage wurde vorbildlich ins Fernsehen übertragen, die kammerspielartige Atmosphäre nur sehr eingeschränkt aufgegeben und spannend auf die Schirme umgesetzt. Dass das Ensemble dazu noch die emotional harte Atmosphäre und den differenziert-moralischen Konflikt brillant einfängt und überträgt, ist letztlich die Kirsche auf dem doch eigentlich so bitteren Moraleis. Denn leichte Kost ist das wahrlich nicht. Oder wie lautet Ihr Urteil?

«Terror – Ihr Urteil» gibt es am Montag, 17. Oktober ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
15.10.2016 09:59 Uhr  •  Frederic Servatius Kurz-URL: qmde.de/88632