Kubrick im «Tatort»: Stuttgart oder das Darknet?

Die Kritiker: Im «Tatort: HAL» spielt nicht wie in der Reihe üblich in der baden-württembergischen Landeshauptstadt – sondern im gerade viel thematisierten Darknet.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Richy Müller («Irren ist männlich») als Thorsten Lannert, Felix Klare («Bis nichts mehr bleibt») als Sebastian Bootz, Ken Duken («Add a Friend») als David Bogmann, Karoline Eichhorn («Mutter muss weg») als Mea Welsch, Sophie Pfennigstorf als Elena Stemmle, David Liske als Bernhard, Carolina Vera («Bewegte Männer») als Emilia Álvarez, Mimi Fiedler («Alles außer Sex») als Nika Banovic, August Wittgenstein («Die Schlikkerfrauen») als Referendar


Hinter den Kulissen:
Regie und Buch: Niki Stein, Musik: Jacki Engelken, Kamera: Stefan Sommer, Schnitt: Barbara Brückner, ausführender Produzent: Nils Reinhardt, Produktion: SWR

Der Titel verspricht viel: «HAL» heißt der jüngste Fall der Stuttgarter «Tatort»-Kommissare, der wenigstens Interesse bei Cineasten und Freunden von Stanley Kubrick wecken dürfte, wobei diese Kategorien nicht selten zusammenfallen. HAL, das war der Computer im dystopischen Klassiker «2001: Odyssee im Weltall», der bei der Raummission zum Jupiter ein Eigenleben entwickelt und versucht, seine Besatzung auszuschalten um seine eigenen Missionsziele zu erfüllen. Wer also einen klassischen «Tatort» erwartet, wird bei den Stuttgarter Ermittlern dieses Mal enttäuscht, aber im Schema der Krimi-Reihe sind ja auch Kunstfilme wie die «Murot»-Fälle immer wieder vorgesehen – und spalten regelmäßig das Publikum, während Kritiker oft überwiegend begeistert sind.

Dabei dürfen jene Zuschauer, die mit dem Außergewöhnlichen wenig anfangen können zunächst hoffen: Schauspielschülerin Elena Stemmle, die ihren Lebensunterhalt mit Escort-Diensten finanziert, wird von einem kleinen Kind an der Oberfläche eines Sees treibend gefunden. So weit, so herkömmlich ist dieser Leichenfund. Doch Elena hat neben ihren Diensten auch bei Bluesky gearbeitet, einer Firma, die im Bereich Software Engineering tätig ist und versucht ein Programm zur Sozialanalyse zu schreiben. Was heißt das konkret? Bluesky ist ein selbstlernendes Programm, das in riesigen Datenmengen das Verhalten von Menschen erfassen und analysieren soll, um so zukünftiges Verhalten – insbesondere im Hinblick auf Gewalttaten – zu prophezeien.

Snuff-Porn und das Darknet


Steckbrief

Frederic Servatius schreibt seit 2013 für Quotenmeter. Dabei ist er zuständig für Rezensionen und Schwerpunktthemen. Wenn er nicht für unser Magazin aktiv ist, arbeitet er im Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder schreibt an seinem Blog. Immer wieder könnt Ihr Frederic auch bei Quotenmeter.FM hören. Bei Twitter ist er als @FredericSrvts zu finden.
In Zusammenarbeit mit den Polizei-eigenen Analyseverfahren scheint Bluesky auch tatsächlich zu helfen: Die Aufnahmen des Programms deuten darauf hin, dass David Bogmann, der Entwickler der Software selbst, ein Video vom Tod Stemmles aufgenommen hat. Als Snuff-Porn war dieses im Darknet ausgespielt worden. So ist der Stuttgarter-Trupp nach Flüchtlingsschleppern im vergangenen Fall schon wieder nah an einem topaktuellen Thema. Schließlich ist das Darknet jüngst in die Schlagzeilen geraten, weil der Amokläufer von München seine Tatwaffe vermeintlich im schwerer erreichbaren Teil des Internets erworben hat. Das war nicht unbedingt planbar, ist aber durchaus glücklich für die Verantwortlichen, dürfte doch das Verständnis für die Thematik ungleich höher sein als noch vor wenigen Wochen. David Bogmann beteuert unterdessen, dass er mit dem Video nichts zu tun habe, auch wenn es seiner IP-Adresse zugeordnet wird. Wirklich glaubwürdig scheint das alles nicht, denn Bogmann gibt zu nebenbei auch ein Kunde des Callgirls Stemmle gewesen zu sein. Und als die Ermittler die Firma Bluesky betreten, werden sie zusätzlich noch von genau dieser virtuellen Dame begrüßt, die doch eigentlich tot ist. Tatsächlich hat David Bogmann die Kontrolle über seine Technik verloren: Immer wieder versucht er die Elena Stemmle als virtuelle Repräsentationsfigur aus dem System zu löschen – doch Bluesky spielt sie immer wieder neu auf.



Es ist ein bewusst lässiges Milieu, das der Film als Setting zur Verfügung stellt: Der neue «Stuttgarter» Fall sieht fancy aus und ist zugleich unendlich düster, er wandelt zwischen Hightech und Abgrund. Der Schritt von hyperinnovativer Gründerkultur zur Selbstaufgabe, auch technisch betrachtet, ist in der Darstellung nicht allzu weit. Dennoch ist die Produktion kein plumper Appell, sondern regt zur kritischen Reflexion an. Denn die Existenz des Positiven an der Technik wird ebenso wenig verneint wie die des Negativen. Diese kritische Betrachtung wird verstärkt durch einen stark aufgelegten Ken Duken, der sich als Bogmann zwischen innovativ-dynamisch und dreist-abgeklärt bewegt, ohne die von ihm gewohnte Coolness vermissen zu lassen. Er versteht es zudem, die Wanderung des Reizobjekts Darknet zwischen Sehnsuchtsort und übler Bleibe darzustellen.

Privates zwischen den Kommissaren? Diesmal nicht.


Wo dem Vorgänger-Film vor einem guten halben Jahr noch Schwächen in Lokalbezug und Charakterisierungen attestiert werden konnte, hat man die lokalen oder persönlichen Bezüge diesmal gleich ganz weggelassen. Mehr als kleinere Frotzeleien werden nicht dargeboten, was vor allem Gelegenheitszuschauern zugutekommt. Dass der ausgesuchte Handlungsort dabei weniger Stuttgart ist, als mehr das Darknet ist grundsätzlich eine interessante weil ungewöhnliche Entscheidung. Durchaus mutig ist das gewählte Handlungszentrum dabei, doch die Verantwortlichen dürften für ihren Mut auch belohnt werden, eben weil das Darknet aufgrund der unrühmlichen Ereignisse auch wenig internetaffinen «Tatort»-Zuschauern mittlerweile ein Begriff sein dürfte. Fraglich ist, ob die im Diskurs abseits der Netzkultur oft sehr einseitig-verurteilend geführte Debatte nicht auch dazu führt, dass über das Szenario des Films pauschal geurteilt wird – das aber ist ohne Zweifel Problem der Rezeption und nicht der Produktion. So oder so hätte es wahrscheinlich kaum einen besseren Zeitpunkt für die Veröffentlichung gegeben.

Ein bisschen schade ist, dass in all dem Konfliktpotenzial auch immer wieder der ein oder andere belanglose Fülldialog lauert. Das ist vor allem insofern verwunderlich, als dass die in den 90 Minuten erzählte Geschichte eigentlich sehr umfangreich ist. Den einen oder anderen Punkt hätte man so vielleicht noch ausführlicher gestalten können, um tiefer in die Finessen des Darknet einzudringen. Sicherlich, in nerdigen Tech-Talk darf eine solche Produktion nicht ausufern, aber so mancher Kniff wäre noch drin gewesen.

Kubricks‘ HAL stimmt als letzte Vergegenwärtigung des vermenschlichten Computerwahnsinns in der deutschen Synchronfassung das Kinderlied „Hänschen Klein“ an, auch von Bluesky ist dieses Werk zu hören – viel deutlicher könnte die Hommage nicht mehr werden. Und doch ist Bluesky klar eine Weiterentwicklung und trägt gesellschaftlichen Entwicklungen und veränderten Rahmenbedingungen der Gegenwart Rechnung. Gerade die Nutzung von Dating-Plattformen und die Algorithmisierung des Alltags werden wunderbar eingefangen und in eine dystopische Zukunft verkehrt. Sicherlich, ein «Tatort» kann schon allein aus finanziellen oder zeitlichen Ressourcen kein Kubrick sein, auch die Laufzeit beschränkt da: Doch aus seinen Mitteln und den 90 Minuten holt der Film tatsächlich einiges raus und kreiert ein düster-verbittertes Monstrum der Chip-Macht und ist damit eine mehr als würdige „Verbeugung vor Stanley Kubrick“ – diese Formulierung hatte Autor und Regisseur Niki Stein selbst im Zusammenhang mit der Produktion gewählt.

Dass sowohl von Stuttgart als auch von den Handlungssträngen rund um die Ermittler wenig zu sehen ist, scheint in Anbetracht dieser Produktion nicht nur zu verschmerzen zu sein, sondern auch mehr als nachvollziehbar, will man doch als Zuschauer jede dystopische Sekunde in sich aufsaugen. Wieder einmal gilt nicht nur, dass bad news eigentlich good news sind, auch bad scenarios sind good scenarios. Dass aber eine solch dunkle Hommage an Kubricks «2001» unter Ignoranz jeglicher Konventionen im «Tatort»-Universum möglich ist, sollte jeden Pauschal-Kritiker verstummen lassen und für Filmfreunde ein echter Fernseh-Erguss sein. Im Gegensatz zu der teils wünschenswerten und teils überzogenen Skepsis gegenüber Technisierung und Digitalisierung, wenigstens ein Zweifel ist zuletzt also getilgt: Die Stuttgarter «Tatort»-Kommissare melden sich noch stärker zurück, als man sie jüngst schon sehen durfte. Eine Duftmarke für die Qualität der anlaufenden Saison ist jedenfalls schonmal gesetzt.

«Tatort: HAL» gibt es am Sonntag, 28. August um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
27.08.2016 11:03 Uhr  •  Frederic Servatius Kurz-URL: qmde.de/87640