Die glorreichen 6: Eine filmische Weltreise (Teil I)

Sommerzeit, Reisezeit. Wir stellen sechs Filmmärkte anhand je eines Beispielfilms vor. Heute: «La Grande Bellezza – Die große Schönheit» aus Italien.

Der Filmmarkt

Filmfacts «La Grande Bellezza – Die große Schönheit»

  • Regie: Paolo Sorrentino
  • Produktion: Nicola Giuliano, Francesca Cima, Fabio Conversi,
  • Drehbuch: Paolo Sorrentino, Umberto Contarello
  • Darsteller: Toni Servillo, Carlo Verdone, Sabrina Ferilli, Carlo Buccirosso
  • Musik: Lele Marchitelli
  • Kamera: Luca Bigazzi
  • Schnitt: Cristiano Travaglioli
  • Herkunftsland: Italien
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Budget: 9,2 Mio. Dollar
  • Einspiel weltweit: 24,16 Mio. Dollar
  • 115.020 Besucher in Deutschland
  • Gewann den Oscar für den besten fremdsprachigen Film

Italien als Filmnation … Hauptsächlich ist das Land von „la dolce vita“ aus cineastischer Sicht für drei Strömungen bekannt: Den Spaghetti-Western, die raue, brutalere und moralisch kompromisslosere Antwort auf den klassischen, romantisierten US-Cowboyfilm. Aufmunternden Komödienspaß, sei es in Form solcher Comedy-Western, wie sie Bud Spencer und Terrence Hill zu europaweiten Superstars gemacht haben, oder der zwar amüsanten, aber keineswegs auf den Kopf gefallenen, sondern gern sozialkritischen „Commedia all'italiana“. Und … Federico Fellini, der praktisch ein Genre für sich selbst darstellt.

Zwar gab es vor und nach ihm noch weitere wichtige Phasen des italienischen Films. Etwa die Stummfilmzeit, zu der in Italien prunkvollere Produktionswerte vorherrschten als in nahezu allen anderen Kinonationen. Oder die auf das Trauma des Zweiten Weltkrieges reagierende Ära des Neorealismus, in der unter anderem Roberto Rossellini moralische und soziologische Gretchenfragen beantwortete, und in der Fellini seine ersten Gehversuche unternommen hat. Oder die Nischenströmung des Giallos, des knalligen Exploitationkinos voller Gewalt und Sex. Aber mit zwölf Academy-Award-Nominierungen überschattet Fellini, der Italien vier Fremdsprachen-Oscars einbrachte, das restliche Filmland.

Paolo Sorrentino lässt sich von diesem Schatten nicht einschüchtern, sondern nutzt ihn gekonnt zur Inspiration. Am stärksten wird dies in «La Grande Bellezza – Die große Schönheit» deutlich, einer bildhübschen, tragikomischen Verneigung vor Fellinis Einfluss. Vor dem galant-ausschweifenden Lebensstil, den wir alle der italienischen Seele zuschreiben. Und nebenher ist es eine kritische Auseinandersetzung mit der Attitüde der Gesellschaft, die in der Berlusconi-Ära vorherrschte. Es ist ein vorzügliches Filmkunstwerk, das Vergangenheit und Gegenwart des italienischen Films vereint und Prunk, Spaß sowie Anspruch bietet. Also ist es perfekt, um während unserer cineastischen Weltreise exemplarisch für Italien zu stehen …

Die Handlung


Jep Gambardella hat das große Los gezogen: Einst verfasste er einen ebenso berühmten wie geachteten Roman, in den er geradezu sein Herzblut fließen ließ. Bald darauf setzte er sich zur Ruhe, um einen Großteil seines Lebens als Mitglied der oberen Zehntausend zu verbringen und es in Saus und Braus an ihm vorbeiziehen zu lassen. Nur gelegentlich verfasst er Kolumnen über den Stand der Kultur und Gesellschaft. Zumeist geht er auf Partys ein und aus – bis er eine fürstliche Festlichkeit anlässlich seines 65. Geburtstags gibt. Als dort sein Jetztzustand mit der Erkenntnis einer sich ausdünnenden Zukunft und Erinnerungen an die Vergangenheit kollidiert, sieht er ein: Hedonismus allein kann ihn nicht anhaltend erfüllen …

Die 6 glorreichen Aspekte von in «La Grande Bellezza – Die große Schönheit»


Als Film über die jegliche Warnsignale ignorierende, neurömische Dekadenz benötigt Paolo Sorrentinos Regiearbeit selbstverständlich eins: Rauschhafte, die Außenwelt verdrängende Partysequenzen, durch die glaubhaft und spürbar wird, wieso jene, die es sich leisten können, am Elend vorbeifeiern. Und selten hat ein Film das mondäne High-Society-Leben voller Festivitäten dermaßen elegant, verführerisch und opulent in Szene gesetzt wie «La Grande Bellezza», ohne diese fulminante Stimmung sogleich mit Schrecken oder Abscheu zu durchsetzen. Allein schon der Prolog, der die Betrachter auf eine von Neonlichtern und Edelmetallschimmern erhellte Feier über den Dächern der berückenden Weltstadt Roms mitnimmt, ehe der Filmtitel im Look einer Leuchtreklame aufflackert, lässt den Atem stocken. Verlockend pulsierende Elektronikklänge, die mit sorglosen Melodien und dem fidelen Gelächter der Partygäste verschmelzen, treiben den Puls an, während Luca Bigazzis Kamera durch die geschmackvoll, aber auch grell gekleidete Masse gleitet, ihr unbekümmertes Wesen einfängt und letztlich über sie hinwegschwebt, um ein Panorama der (oberflächlichen) Lebensfreude und des stolz ausgelebten Hedonismus zu enthüllen: Sorrentino lässt uns am pappsüßen, alkoholgetränkten Leben teilhaben, ohne direkt verurteilend den Kopf zu schütteln. Er schenkt uns köstlichen, süchtig machenden Wein ein.

Die Schattenseiten folgen erst im Abgang, eher sogar mit dem schalen Nachgeschmack, der sich erst nach den Festlichkeiten entfaltet, wenn vorerst nicht mehr nachgeschenkt wird. Großes Vergnügen, nichts dahinter: Ohne in Extreme zu verfallen, skizzieren Autor/Regisseur Sorrentino und Ko-Autor Umberto Contarelli abseits der Partys, die ihr charismatischer Lebemann-Protagonist Jep Gambardella schmeißt und besucht, den ernüchternden Alltag. Dieses Komödien-Drama predigt nicht lautstark und gehässig, wie schmutzig die Schönen und Reichen sind, sondern offenbart ganz nüchtern in seiner ausschweifenden Laufzeit, dass auf den Rausch nun einmal zwangsweise Leerlauf folgt. Der im Falle des alternden Intellektuellen Gambardella genutzt wird, um in melancholischer Stimmung gehüllt darüber nachzudenken, ob ein Leben nicht mehr zu bieten hat, als festliche Hochs und das Warten auf das nächste festliche Hoch. Somit ist dieses italienische Kino-Meisterstück politisch, ohne konkret politisch zu sein: Die „Keiner kann mir was“-Attitüde, die Gambardella anfangs an den Tag legt, erinnert an die verschwenderische Berlusconi-Ära, in der grinsend Geld verprasst und mit aufgesetzten Scheuklappen das wenige, das noch funktionierte, gefeiert wurde, während alles andere vor die Hunde ging. Gambardellas Erkenntnis, dass eine zufriedenstellende Zukunft in den kulturellen sowie empathischen Werten früherer Zeiten liegt, ist somit als Wegweiser für das italienische Volk zu verstehen – oder schlicht als zeitlose Lektion. Es mag verführerisch sein, den letzten Rest an Lebendigkeit auszukosten und bis zum Anschlag auszureizen, um eine sich stetig ausbreitende, schändliche Leere in Vergessenheit zu drängen. Lang anhaltendes Wohlsein verspricht dies aber wahrlich nicht.



Diese Botschaft vermittelt der «Il divo»-Regisseur ohne die Moralkeule zu schwingen. Gambardellas Rückbesinnung auf sein romantisches Ich, oder wenigstens auf seine feingeistige statt genusssüchtige Ader, geschieht ruhig und sukzessive in schönen, dezent skurrilen Episoden. Kleinere, glaubhafte Rückschläge gehören dabei ebenso zur Tagesordnung wie sympathische Kapriolen und dialogarme Passagen, in denen die abseits der Partyszenen besonnene, poetische Kameraarbeit das Sprechen übernimmt. Die Schönheit Roms, die unter der durch mangelnde Sorgfaltspflicht eklatante Schicht der Verrohung durchschimmert, bilden Sorrentino und Bigazzi nicht nur eindrucksvoll genug ab, um ein „Es ist so, als wäre ich da gewesen“-Gefühl zu erwecken, sondern auch, um Gambardellas inneres Hadern bei der Suche nach erfüllender Schönheit atmosphärisch zu unterstreichen.

Ohne den begnadeten Toni Servillo würde «La Grande Bellezza» aber selbst der formidablen Inszenierung zum Trotz gewiss auseinanderfallen. Servillo markiert seine Rolle als Charmeur, als Party-Zeremonienmeister, der aller Zuneigung zum Prunk noch immer eine herzliche Art und einen wachen, selbstkritischen Verstand hat – nur, dass er sich halt erst nach seinem 65. Geburtstag die Zeit nimmt, diesen Persönlichkeitszügen endlich wieder vollends nachzugeben. Es ist kein arroganter, den Kopf in den Wolken haltender Held, der hier auf der Suche nach Beständigkeit ist, sondern einer mit dem Willen, sich zu ändern und dem ewigen Vergeuden von Materiellem und seiner eigenen Energien abzuschwören. Fehlbar ist der wortgewandte Geck mit zärtlichem Inneren dennoch, was seine Suche nach Selbsterkenntnis, neuen Lebensinhalten und nicht nur aus Opulenz bestehendem Glück zu einem sehr amüsanten und mit emotionalen Fallstricken versehenen Geschehen wandelt.

Dazu steuern ebenso die illustren Nebenfiguren bei, die dieses liebenswerte, leicht befremdliche Zerrbild Roms bevölkern. Von einer Fleisch und Blut gewordenen Doppelgängerin Edna Modes, der exzentrischen «Die Unglaublichen»-Modedesignerin, hin zu alternden Partylöwen, begeisterungsfähigen Nonnen, grüblerischen Intellektuellen und Schönheiten, denen das Alter kaum etwas anhaben kann – ganz gleich, ob in den munteren oder den introspektiven Szenen, stets kann Jep Gambardella auf interessante Gesellschaft zählen.

Obendrein wird seine Geschichte von zahlreichen, smarten Fellini-Referenzen begleitet. Die Story allein lässt «La Grande Bellezza» als „Fortsetzung im Geiste“ von «Das süße Leben» erscheinen, jener Auseinandersetzung mit der landesweiten Feierstimmung, die der Wirtschaftsboom auslöste. Dort träumte ein junger Gesellshaftsreporter davon, Schriftsteller zu werden. Nun träumt ein Gesellschaftsreporter davon, wieder Schriftsteller zu werden. Aber es änderte sich einiges in den Jahrzehnten zwischen den Filmen: Die Partys sind kein zu weit gehender Ausdruck der Freude darüber, etwas geleistet zu haben, sondern Ablenkung vor dem klaffenden Abgrund. Dennoch blickt Sorrentino nicht auf seine Figuren herab, sondern zelebriert seine Kritik ihres Handelns als Elegie, während Fellini schon strenger zu zügeln versuchte. So gegensätzlich die Herangehensweise an das vergleichbare Konzept sein mag: Dennoch tänzelt Sorrentino träumerisch in visuelle Parallelen zu seinem Vorbild, lässt die Kamera fellinieske Bilder einfangen und hie und da den Schnitt einen «Das süße Leben»-Takt annehmen – ohne je zu klauen oder der Meta-Narrative das Erzählen zu überlassen. Sorrentino verbeugt sich und macht sein Ding. Sein eigenes, ausgelassenes, malerisches, kritisch-nachdenkliches, witziges Ding.

«La Grande Bellezza – Die große Schönheit» ist auf DVD und Blu-ray erhältlich, zudem kann er via Amazon, Netflix und Google Play gestreamt werden.
10.07.2016 13:18 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/86729