Sülters Sendepause: To binge or not to binge? Sucht, Lebensgefühl oder Langeweile? Was ist dran am Trend?

Entspannt eine Serie zelebrieren - in vielen Wohnzimmern ist diese Art des TV-Konsums längst dem Binge-Watching gewichen. Doch warum schauen wir so gerne alles auf einmal? Ich habe mal drüber nachgedacht.

Transformation der Gewohnheiten


Früher lief die Lieblingsserie zuerst ganz entspannt im Heimatland im Fernsehen – von uns Deutschen zumeist weitestgehend unbeachtet Woche für Woche, mit teils längeren Pausen dazwischen. Bis sie nach Deutschland kam, durfte man dann eine ganze Weile warten. Vielleicht konnte man es nicht ertragen und kaufte sich kaum erschwingliche fremdsprachige VHS-Kassetten. Ich erinnere mich, dass neue «Star Trek»-Episoden beim Nerd-Shop um die Ecke mich damals rund 40 DM kosteten – wohlgemerkt zwei Episoden auf einer Kassette. Dann kam irgendwann das Pay-TV ins Spiel und holte Serien schneller zu uns herüber. Inzwischen bieten unzählige Streamingportale neue Folgen gar schon zeitgleich oder kurz nach Erstausstrahlung an, oder schicken direkt ganze Staffeln (auch eigenproduzierter Serien) über den Äther – zur freien Verfügung, je nachdem wie viel Zeit der Nutzer gerade hat.

Seitdem – könnte man meinen – habe sich eine neue Kultur des Serienschauens entwickelt: Das Binge-Watching. Bei dieser Konsumform werden mehrere Episoden direkt hintereinander geschaut und somit ganze Staffeln oder gar Serien in kürzester Zeit verschlungen.

Doch ist das nur die halbe Wahrheit: Bereits in den 80ern begannen amerikanische Fernsehstationen damit, Reruns diverser Formate als Serienmarathons zu programmieren und somit den Konsum vieler Episoden am Stück zu befeuern. Der Begriff Binge-Watching lässt sich bis in die 90er Jahre zurückverfolgen, als man begann, Serien aufzunehmen oder in VHS- oder DVD-Boxen zu erwerben und rasant durchzuschauen. Er startete als geflügeltes Wort jedoch erst 2013 richtig durch, als Netflix und andere Global Player zunehmend den Markt besetzten und begannen, mehr anzubieten, als der Normalsterbliche jemals würde schauen können…

Ich guck mir mal fix ne ganze Serie an


Doch offenbar haben viele Nutzer eine Menge Zeit und Muße – Netflix hat just eine neue Studie veröffentlicht, die das weltweite Abspielverhalten für mehr als 100 der aktuell angesagten Serienhits in über 190 Ländern untersucht hat. Die Ergebnisse sind durchaus einen Blick wert: Eine Serien-Staffel schauen User im Durchschnitt in Dosen von etwas mehr als 2 Stunden pro Tag. Je energiegeladener die Erzählung, desto eher wird die Serie aber in höherer Taktung verschlungen. Nachdenkliche Stoffe hingegen werden eher in Ruhe ausgekostet.

Serien wie «Sense8», «Orphan Black» oder «The 100» gehöre zu den packendsten Erzählungen und machen, wie die „Binge“-Skala von Netflix zeigt, geradezu süchtig. Klassische Elemente wie Horror oder Thriller ziehen eben immer und lassen Formate wie «The Walking Dead» oder «American Horror Story» auf der Skala weit in Richtung des Verschlingens rutschen.

Interessanterweise verhält es sich bei Comedyformaten, die man schnell wegkonsumieren kann, jedoch ähnlich – hierzu gehören zum Beispiel «Nurse Jackie» oder «Grace & Frankie». Sie sorgen für gute Laune, sind oft kurz und führen somit gerne zu der berühmten eine geht noch-Haltung.

Vielschichtige Erzählungen wie «House of Cards» oder «Bloodline» werden dagegen wesentlich gemächlicher angegangen. Gleiches gilt auch für Dramen, die wie «Mad Men» in der Vergangenheit angesiedelt sind. Gewagte Comedystoffe wie «BoJack Horseman», «Love» und «Unbreakable Kimmy Schmidt» bedürfen scheinbar ebenfalls größeren Pausen – oder sind schlicht nicht seicht genug, um sie back-to-back würdigen zu können.

Die komplette Netflix-Studie könnt ihr im Übrigen hier nachlesen.

Nur eine noch, Schatz!


Und es ist nicht so, als wäre mir diese Entwicklung absolut fremd – im Gegenteil. Besonders die Jahre 2001 bis 2010 verbrachten meine Frau und ich damit, die Serien «24» und «Lost» geradezu zu inhalieren. Besonders die ersten Staffeln kamen pro Abend selten unter vier Episoden am Stück weg – eine Staffel war somit kaum ausreichend für eine Woche. Dass sich daraus keine langlebige Binge-Neigung entwickelt hat, liegt nicht etwa an den insgesamt schwächer werdenden Formaten oder der fehlenden Auswahl – mitnichten. Hier kam uns schlicht das Leben (Kind) in die Quere – wenn die Nacht jeden Morgen spätestens um 6 endet sinkt die Bereitschaft, bis spät in die Nacht mit seinen Helden zu fiebern leider automatisch. Verhinderte Binge-Watcher sozusagen? Auch nicht wirklich.

Binge als Gefahr


Denn gibt es zwar sicherlich immer wieder Serien, bei denen man kaum erwarten kann, den Fortgang der Handlung zu erfahren, doch ist es in den meisten Fällen eben mindestens genauso anregend, nach einer Episode erst einmal inne zu halten, und das Gesehene zu reflektieren. Gerade bei einem Format wie «Lost» wäre es verschenkt gewesen, hätten wir uns nicht ständig diesen Berg von Gedanken machen können.

Man hätte sich die Vorfreude, die innere Anspannung, das Wälzen von Theorien genommen, das die Jahre rund um die Serie ausgezeichnet haben. Das Diskutieren mit Freunden und Kollegen wäre auf einen Schlag unmöglich und überflüssig geworden. Hat dir die Serie gefallen? Ja/Nein/Vielleicht. Danke, Ende. Völlig abseits der verschiedenen Ansichten über das Ende der Serie wäre hier ein elementarer Teil weggebrochen, der genaugenommen eben auch Teil des Gesamtkonstruktes war, das die Autoren und Produzenten präsentiert haben und das uns über Jahre atemlos bei der Stange hielt.

Konzipiert man also heutzutage eine Serie, muss man das Binge-Element eigentlich einkalkulieren. Die Autoren müssen ganz anders liefern. Oder nicht? Muss eine Serie denn wirklich in allen Auswertungsformen funktionieren? Wird darauf wirklich produktionsseits ein Auge geworfen? Oder ist hier jeder Konsument seines Glückes Schmied? Letzteres ist vermutlich (noch) der Regelfall. Im Zweifel hält der Blick auf das Bingen Autoren aber vielleicht zumindest dazu an, weniger zu wiederholen und seltener zu rezitieren, weil man sich auf ein besseres Gedächtnis der Kundschaft verlassen kann.

Neben diesen inhaltlichen Überlegungen und dem Faktor Zeit gibt es aber noch ein weiteres Feld, das näherer Betrachtung bedarf: Die Gefahren.

Die American Heart Association gab schon 2014 eine Studie heraus, die einen direkten Zusammenhang zwischen fehlender Bewegung durch Binge-Watching herstellte. Das Fazit: Menschen, die mehr als drei Stunden oder gar den ganzen Tag lang fernsehen, riskieren eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit für ein frühzeitiges Ableben als diejenigen, die es mit dem TV-Konsum ruhiger angehen lassen.

Dass bei derartigen Studien gerne die sonstigen Lebensgewohnheiten der Testpersonen außer Acht gelassen werden, relativiert sicherlich einiges. Doch immerhin macht man medienwirksam auf ein Grundverhalten aufmerksam, dass von vielen immer noch unterschätzt wird.

Wer ungesund lebt, braucht sicher nicht zu Binge-Watchen, um krank zu werden. Mindestens aber liegt den verschiedenen Risikofaktoren ein gemeinsamer Nenner zugrunde, den es im Einzelfall zu definieren und medizinisch-therapeutisch zu bearbeiten gilt.

Conclusio


Letztlich ist das Bing-Watching eine Machtausübung des Zuschauers zu sagen, ich möchte meine Serie genau in dieser Taktung und zu dieser Tageszeit schauen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dass jede exzessive Form des Konsums Risiken birgt, ist keine neue Erkenntnis – so ist es letztlich dann eben auch beim Fernsehen.

Steckbrief

Björn Sülter ist bei Quotenmeter seit 2015 zuständig für Rezensionen, Interviews & Schwerpunkte. Zudem lieferte er die Kolumne Sülters Sendepause und schrieb für Die Experten und Der Sportcheck.
Der Autor, Journalist, Podcaster, Moderator und Hörbuchsprecher ist Fachmann in Sachen Star Trek und schreibt seit 25 Jahren über das langlebige Franchise. Für sein Buch Es lebe Star Trek gewann er 2019 den Deutschen Phantastik Preis.
Er ist Headwriter & Experte bei SYFY sowie freier Mitarbeiter bei Serienjunkies, der GEEK! und dem FedCon Insider und Chefredakteur des Printmagazins TV-Klassiker und des Corona Magazine.
Seine Homepage erreicht ihr hier, seine Veröffentlichungen als Autor auf seiner Autorenseite.
Wer mit Vernunft und in vertretbaren Dosen vorgeht, macht sich seine Serien-Welt frei nach Pippi Langstrumpf ganz einfach so, wie sie ihm oder ihr gefällt. Und das ist dann in letzter Instanz auch das Gute und Positive an der heutigen Zeit: Die Möglichkeiten sind vielfältig, ja fast unendlich. Wir müssen sie nur bestmöglich für uns nutzen. Und das war schon immer des Jeden seine ureigene Verantwortung.

Der Sülter hat für heute Sendepause, ihr aber bitte nicht – Wie sind eure Erfahrungen? Welche Serien werden aktuell gesuchtet oder haben in der Vergangenheit bei euch nur im Zeitraffer existiert? Was macht eine Binge-Serie für euch aus? Welche lasst ihr langsamer angehen? Und warum? Welcher Anbieter hat überhaupt die süchtig machensten Serien? Netflix? Amazon? Oder drängt gar Hulu schon nach? Denkt darüber nach und sprecht mit anderen drüber. Gerne auch in den Kommentaren zu dieser Kolumne. Ich freue mich drauf.

In 14 Tagen sehen wir uns zur nächsten Ausgabe von «Sülters Sendepause».

Die Kolumne «Sülters Sendepause» erscheint in der Regel alle 14 Tage Samstags bei Quotenmeter.de und behandelt einen bunten Themenmix aus TV, Film & Medienlandschaft.

Für konkrete Themenwünsche oder -vorschläge benutzt bitte die Kommentarfunktion (siehe unten) oder wendet euch direkt per Email an bjoern.suelter@quotenmeter.de.
18.06.2016 10:54 Uhr  •  Björn Sülter Kurz-URL: qmde.de/86183