Popcorn und Rollenwechsel: Das Johnny-Depp-Problem

Der Fall 'Johnny Depp und Amber Heard' muss an dieser Stelle einfach besprochen werden. Weil sich Kinokolumnist Sidney Schering aber nicht in die Nesseln setzen will, lässt er zwei Freunde darüber streiten.

Amy: Naaaa … immer noch heiß auf «Fluch der Karibik 5»?
Nick: Natürlich habe ich Bock auf den Film! Bis 2017 ist es ja leider noch was hin, aber ich will unbedingt sehen, was Joachim Rønning und Espen Sandberg nach «Kon-Tiki» so alles auf hoher See an Abenteuern zaubern können, wenn sie ein Mordsbudget haben! Und … der Film heißt «Pirates of the Caribbean – Dead Men Tell No Tales», wenn ich bitten darf …

Amy: Äh … Oookay. Ich hätte dir doch was mehr Sensibilität zugetraut. Habe dich nie für einen dieser Chauvi-Penner gehalten.
Nick: Bitte, was? Soll ich nun eine geliebte Filmreihe scheiße finden, weil gegen den Hauptdarsteller eine Klage erhoben wurde?

Amy: Naja, die alten Filme darfst du gern noch mögen, weil du sie mit einem anderen Wissensstand kennengelernt hast. Nostalgie und so, das ist völlig in Ordnung. Aber jetzt noch gebannt in die Zukunft gucken? Es ist ja auch nicht irgendeine Klage. Wegen zu schnellem Fahren oder fahrlässiger Müllentsorgung oder Beleidigung türkischer Staatsoberhäupter. Seine fuckin‘ Frau verklagt ihn wegen häuslicher Gewalt! Schlimmer geht’s kaum! Sag nicht, du bist einer von denen, die seine Unschuld beteuern?!
Nick: Gute Güte, nope!

Amy: Also gibst du zu, auf einen Film eines Frauenschlägers scharf zu sein? Geht’s noch? Disney sollte den Film einfach kippen …
Nick: Eines vermutlichen Frauenschlägers, zum Ersten. Und, nein, bitte nicht, ich will wissen, wie’s weitergeht, zum Zweiten! Verdammt …

Amy: Bitte, was?! Eines „vermutlichen Frauenschlägers“? Nick, du … Ihr seid ja nun doch alle gleich.
Nick: Neeeeein. Ich bin keiner dieser Pressspanköpfe, die nun durch die Gegend rennen, keinen der beiden Beteiligten kennen, und meinen, für den Berühmteren Partei zu ergreifen, weil sie ihn halt lieber haben. Und noch viel weniger, weil „wir Männer zusammenhalten müssen“, mit diesem Geschlechterkrieg-Schwachsinn will ich nichts zu tun haben! Bah, jetzt ist mir übel!

Amy: Was ist dann dein Problem?
Nick: Amy, ich habe kein Problem! Ich habe Amber Heards Vorwürfe gelesen, ich finde die besorgniserregend, es ist richtig, dass ihnen nachgegangen wird, und damit hat es sich für mich. Ich habe ein sehr nüchternes Justizverständnis, Fälle haben juristisch geklärt zu werden. Anwälte, Polizisten, die sollen sich um die Fakten kümmern. Was haben wir von dieser uramerikanischen Mentalität, wo jeder Affe, der Zugang zu den Medien hat, meint, sein Urteil auszusprechen? Wir kennen nur die Scheißfakten, oder Scheiß-Vielleicht-Fakten, die es bis in die Presse geschafft haben, und da es ein Promifall ist, ist es sauschwer, zwischen Fakt, Trittbrettfahrer und Klatsch zu unterscheiden. Ich war geschockt, nun ist es bis zur Verhandlung kein Thema mehr für mich. Aus.

Amy: Also hast du keine Meinung in der Sache?
Nick: Nein. Doch. Vielleicht. Ach, ich weiß nicht. Also, ich habe aufgrund der Menge an Beweisen, die Amber Heard aufbringt, die Befürchtung, dass sie die Wahrheit sagt. Aber ich lasse trotzdem meine Fackel und meine Mistgabel im Arbeitsschuppen hängen, statt nun wortwörtlich oder virtuell Johnny Depp hinterherzurennen.

Amy: Also hoffst du, dass Amber Heard lügt?
Nick: Nein! Ich will nicht das Bild der hysterischen, lügnerischen Frau heraufbeschwören, die ihren Mann sprichwörtlich an den Galgen bringt, weil sie geldgierig ist oder ihm etwas heimzahlen will. Sowas fände ich furchtbar.

Amy: Aber wenn du willst, dass Depp unschuldig ist, willst du automatisch, dass Heard lügt.
Nick: Darling, wenn ich nun sagen würde: „Ich hoffe, dass Amber Heard die Wahrheit sagt“, würde ich ihr ja deiner Logik nach gönnen, dass sie mit einem Mann verheiratet ist, der sie schlägt. Beziehungsweise: Das könnte ich dir ja nun vorwerfen. So zu denken. Dann sind wir beide abgefuckte Bastarde. Nein, ich will einfach nicht, dass eine Frau geschlagen wurde. Das mündet in diesem Fall leider dahin, dass Heard also gelogen hätte. Aber mein Schwerpunkt liegt nicht auf „Ich hoffe, sie lügt.“ Sondern auf: „Ich hoffe, es ist nichts passiert.“

Amy: Nick, du bist so naiv. So funktioniert diese Debatte nicht.
Nick: Dass ich nicht der Hellste bin, solltest du wissen, seit du mir erklären musstest, dass Quinoa kein Fisch ist. Trotzdem weiß ich, dass ich weder Gewalt gegen Frauen gut heiße, noch dass ich Heard des Lügens bezichtige. Ich lehne mich hier faul zurück und spiel X-Box, während der Rest der Gesellschaft rumzetert und du mich zwingst, Stellung zu beziehen, wo ich doch einfach nur will, dass die verantwortlichen, fähigen Instanzen ihre Dinge verrichten.

Amy: Also bist du ein feiger Mann, der lieber gar nichts sagt, statt einen anderen Mann an den Pranger zu stellen. Denn er könnte ja unschuldig sein.
Nick: Ich prangere niemals jemanden an. Würde Depp sagen, Heard hätte ihn geschlagen, würde ich hier auch faul rumsitzen. Ich bin in solchen Dingen phlegmatisch. Ich war nicht dabei, wie soll ich Partei ergreifen? Ich schimpfe auch über Leute, die vermeintliche Mörderinnen in den Medien zur Schau stellen und über den wütenden Mob aus der Nachbarstadt, der sich gegen den vermeintlichen, neu dazu gezogenen Terroristen auflehnte. Wenn wir nichts wissen, sollen wir keine Schlüsse ziehen. Im Moment ist das, wie ... Wie heißt es? Wie bei Schrödingers Katze. Er hat sie geschlagen und ist unschuldig. Sie sagt die Wahrheit und lügt. Bis wir die Kiste der Gerichtsverhandlung öffnen und reingucken. Ende.

Amy: Also bist du ein Weichei, dass lieber keine Meinung hat. Sehr verantwortungsbewusst. Schön wegschauen, in einer Realität, wo sich viele Frauen nicht trauen, gegen ihren Schweinehund von Mann vorzugehen. Obwohl ... Du schaust ja nicht einmal weg. Du ziehst den Schluss, dass du weiterhin Lust auf Depp-Filme hast. Statt ihm das verdiente Ende seiner Karriere zu wünschen.
Nick: Das ist ein künstlerisches Urteil, kein juristisches. Wenn der Penner seine Frau geschlagen hat, dann ab ins Gefängnis mit ihm, aber seine Filme sind doch unschuldig. Die haben niemanden geschlagen. Okay, manche von ihnen haben mich meiner Lebenszeit beraubt, wie «Transcendence», aber das ist was völlig anderes.

Amy: Man kann nicht zwischen Kunst und Künstler trennen. Nick, du glaubst ja nicht einmal an die Literaturphilosophie „Tod des Autors“, du verschlingst, wenn du denn mal liest, Schauspieler- und Regisseurbiografien, hörst Audiokommentare …
Nick: Und dennoch kann ich zwischen dem Privatleben und dem Arbeitsleben trennen. Jemand, der sich nie eines Verbrechens schuldig gemacht hat, kann hetzerische Bücher schreiben, und jemand, der privat grausame Dinge getan oder gedacht hat, kann schöne Werke verursachen. Roald Dahl war Antisemit. Roman Polanski hat Mädchen angefasst, die er nicht anfassen sollte. Über Woody Allen kann man sich sein Leben lang den Kopf zerbrechen, Tim Allen war Drogendealer, …

Amy: Alles Männer, denen du da verzeihst!
Nick: … Taryn Manning soll ihre Makeup-Assistentin geschlagen haben, Carmen Electra ihren Ex, Winona Ryder hat geklaut, mir doch alles egal, wenn ich deren Filme sehe.

Amy: Da ist aber ein riesiges Gefälle, was die Taten angeht. Und ich weiß ganz genau, dass ich mir guten Gewissens keinen neuen Johnny-Depp-Film werde anschauen können.
Nick: Wenn er schuldig ist und verknackt wird, dann kann er danach ruhig weiter Filme drehen. Ich werde die mir anschauen, wenn sie mich interessieren. Wenn wir alle Künstlerinnen und Künstler, die miese Schweine sind, aus unserer Medienwelt verbannen und ihre Werke auf einen moralischen Index packen, werden wir bald gar nichts mehr gucken, hören, lesen können. Außerdem: Wir glauben doch an Resozialisierung? Wenn er gesessen hat, soll er danach arbeiten.

Amy: Und Millionen von Dollar verdienen?
Nick: Ja. Gut. Das ist natürlich … Naja. Äh. Hollywood und seine Gagen …

Amy: Und manche deiner genannten Beispiele haben auch nie eingesessen! Polanski flieht seit Jahrzehnten.
Nick: Was mies ist, aber ich gucke gerne seine Filme … Ein … äh … Hoch auf die Kunst!?

Amy: Nick, du bewegst dich gerade auf ganz dünnem Eis.
Nick: Ja, das stimmt schon, aber du kannst der Filmwelt doch nicht Polanski verbieten. Ich sage auch nicht, dass das seine Taten wieder gut macht, aber … Eis? Ha. Jetzt weiß ich es. Amy, guck mal in unseren Kühlschrank. Was steht da im Eisfach? Brownie-Eis von Ben & Jerry’s. Und wer macht deren Brownies? Eine New Yorker Bäckerei, die Ex-Sträflinge anstellt. Wenn ich keine Filme mehr von bösen Männern gucken darf, dürfen wir auch kein Eis mehr von Ex-Knackis essen.

Amy: Die Ex-Knackis verdienen aber nicht Millionen von Dollar. Und sie haben wenigstens schon eingesessen.
Nick: Amy, du vermischst zwei oder gar drei Probleme. Also, darf ich nun Eis von Ben & Jerry’s essen? Lass mich für dich antworten: Ja. Denn die tun Gutes. Und helfen Leuten bei der Resozialisierung. Und wenn Depp schuldig ist, wird er sicher bestraft, und danach kann er auch ruhig Filme drehen.

Amy: Und du, Nick, sträubst dich vor gesellschaftlicher Verantwortung. Darüber hinaus: Die Ex-Sträflinge backen anonym. Johnny Depp rennt mit seinem Gesicht vielleicht weiter in Familienfilmen rum.
Nick: Aber er rennt nicht als er selbst rum. Außerdem: Wenn ich stärker zwischen Medienpersona und realer Person trennen kann als du, ist das ja meine Schuld. Oder mein Glück. Was auch immer. Wenn du da nicht trennen kannst oder willst, dann schau die Filme einfach nicht. Ist ja absolut okay. Außerdem will ich ja, dass er bestraft wird, wenn er es war.

Amy: Trotzdem haben wir dann einen Promi, der eine Frau geschlagen hat. Was soll das denn für eine Aussage für unsere Gesellschaft sein? „Hey, liebe Jungs. Wenn ihr eure Freundin schlägt, werdet ihr trotzdem berühmt, wenn ihr nur wollt ...“ Und was ich mich noch Frage: Wenn auf wundersame Weise doch ein Freispruch erfolgt? Wie denkst du dann?
Nick: Bei der Menge an Beweisen? Dann muss ja bewiesen werden, dass Heard lügt. Und bevor du fragst: Ja, auch dann würde ich mir weiter Amber-Heard-Filme angucken. Die hat ja endlich das Schauspielen gelernt …

Amy: NICK!
Nick: Oh. Fuck. Nein, nein, nein! So meinte ich das nicht! Ich meine, dass sie mir seit ein oder zwei Jahren endlich als Schauspielerin gefällt ... Gott, ich muss echt lernen, aufzupassen, was ich so sage …

Amy: Nick, was du so alles nicht weißt ...
06.06.2016 15:59 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/86046