Wie kam es zum goldenen Zeitalter der Fernsehserien?

Teil II: Die Auswirkungen des Telecommunication Act, der «CSI»-Boom und damit die Wiederentdeckung des Crime Procedurals und die Weiterentwicklung der Technik sorgten in den vergangenen Jahren dafür, dass US-Serien rasch an Qualität gewannen.

Steckbrief

Dr. Vladislav Tinchev ist als Redakteur bei Quotenmeter zuständig für Rezensionen, Interviews und Schwerpunktthemen. Bis 2012 war er bei den Kollegen von Serienjunkies aktiv. Er arbeitet als Headwriter für die bulgarische Serie "Fourth Estate" (zweite Staffel), hat für ARD-Degeto die Krimi-Reihe «Branka Maric» entwickelt und unterrichtet an der Universität in Hamburg. Weitere Informationen gibt es auf seiner Homepage.
Im ersten Teil des Artikels haben wir uns mit den möglichen Ursachen für die Vormachtstellung der US-Serien beschäftigt und an dieser Stelle setzen wir dies mit den Auswirkungen des Telecommunication Act fort. Was bedeutet grenzenlose ökonomische Freiheit für die Fernsehlandschaft?

Bezüglich ‚Meinungsbeeinflussung’ umstrittene Medienkonglomerate konnten sich nach diesem mit staatlichem Segen vertikal organisieren: Produktion, Distribution und Programmvertrieb sowie Networks und Kabelsender wurden unter einem Dach vereint. Ein Beispiel hierfür wäre die Gründung des gigantischen Medienimperiums Viacom, bei dem sich ab 2004 - unter den wachsamen Augen von Firmengründer Sumner Redstone - Leslie Moonves und der MTV Networks-Präsident Tom Freston die Herrschaft teilten. Als die gewünschten Synergie-Effekte ausblieben und die ersten Beschwerden von der Wall Street eintrafen, teilte Redstone Anfang 2005 sein Unternehmen in zwei Hälften auf. Leslie Moonves übernahm die Funktion des Präsidenten und CEO der CBS Corporation, zu der neben dem Network CBS und dessen eigenen (O&O's, „owned & operated“) Stationen auch das Fernsehstudio CBS Paramount Television, der vormals unabhängige Syndication-Gigant King World, der Pay-TV-Sender Showtime, der Verlag Simon & Schuster, die Paramount-Freizeitparks sowie noch eine Reihe weiterer Firmen gehören. Außerdem gründeten die Produktionsstudios ihre eigenen Sender, wie im Fall von The WB und UPN, um Abspielstationen für ihre Programmware zu haben. Unter der Mitwirkung von CBS Corporation-Chef Moonves fusionierten die beiden kleinen Networks WB und UPN danach zum neuen Sender CW.

Die Networks konnten so viele Eigenproduktionen ausstrahlen, wie sie wollten und auch mit den lukrativen Einnahmen von den Syndication-Deals rechnen.

1995 besaßen die Networks 40 % ihrer Programme; im Jahre 2000 besaß CBS 68% seines Primetimeprogramms, FOX sogar 71% und NBC 75%. In der Season 2000-2001 hatte Viacom 28 Formate in Ausstrahlung, 15 davon auf CBS; 20th Century-Fox hatte 18 und 10 davon auf FOX; Warner Bros. 18, 7 davon auf WB; und Disney 9, von denen 5 auf ABC ausgestrahlt wurden.

Dazu kommen noch die Deals zwischen den Konzernen. Beispielsweise produzierte Warner Bros. Hits wie «ER», «Friends» und «The West Wing» für NBC und verkaufte sie an den Konkurrenten, anstatt sie auf dem eigenen WB Network auszustrahlen. Durch solche auf den ersten Blick unlogischen Deals erhöhte man auf lange Sicht die Qualität des gesamten Marktes. Eine andere mögliche Erklärung für die Deals zwischen den Konzernen sind die sich häufenden Gerichtsprozesse, die aus der vertikalen Konzernstruktur und dem Versuch, diese durch Verkauf der Ausstrahlungsrechte unter Wert an konzerneigene Firmen voll auszuschöpfen, resultieren. Die öffentliche Diskussion solcher „sweetheart deals“ schadet nachhaltig dem Image des Konzerns und ist außerdem teuer.

FOX verkaufte 1999 Steven Bochcos «NYPD Blue» an den eigenen Kabelsender, ohne sich andere Angebote auch nur anzusehen. So verklagte der Schöpfer der Serie FOX auf 15 Millionen Dollar. David Duchovny verklagte Fox auf 25 Millionen wegen „self-dealing“, dem Verkauf der Ausstrahlungsrechte von «The X Files»-Wiederholungen an FX zum Discountpreis. Aber einer der wichtigsten Gründe, warum die Networks gerne Produkte der Konkurrenz kaufen, ist die finanzielle Kaufkraft. Die 13 Millionen, die das wegen der wachsenden Konkurrenz panisch gewordene NBC an Warner Bros. für eine Folge «ER» hinblätterte, überstiegen alles, was das konzerneigene Network je bezahlt hätte. Außerdem wurde schon die Tatsache erwähnt, dass sich die Networks, genauso wie die Pay-TV-Sender und die Kabelanbieter, immer öfter an bestimmte Zielgruppen wandten; damit stellte sich unweigerlich die Frage, wie viele Eigenproduktionen zu der Ausrichtung des jeweiligen Networks passten. Wenn die Zielgruppe eines Networks zum Beispiel männliche Zuschauer zwischen 18 und 49 Jahren sind und das eigene Studio nur eine passende Serie für die Saison in Produktion hat, dann muss man bei der Konkurrenz einkaufen.

Die vertikale Strukturierung führte dazu, dass jedes Unternehmen ein Hollywood-Major mit all seinen Ressourcen als Kern für seine TV-Produktion bekam – so wurden die Networks „studio-based“. Das ist insoweit wichtig, als sich damit eine Veränderung in der Denkweise über Budgets und Aufwand für TV-Serien abzeichnete. Man durfte sich im harten Konkurrenzkampf keine Nachlässigkeiten mehr erlauben, was die Qualität der Produkte betraf. Die Produktion von TV-Serien verlagerte sich fast zu 100 Prozent in die Hollywood Studios und ihre Tochterunternehmen - somit konnte man es sich leisten, die production values zu erhöhen. So bekam das Fernsehbild eine neue ästhetische Qualität im audiovisuellen Bereich, die der audiovisuellen Ästhetik des Kinos sehr nahe kommt. Wegen der vertikalen Strukturierung der Konzerne und des Zusammenlegens von Produktion, Distribution und Programmvertrieb, von Networks, Pay-TV und Kabelsendern ergaben sich überdies mehrere Möglichkeiten der Refinanzierung.

Dazu kommt das wachsende Interesse an US-Serien im Ausland und dadurch die immer weiter steigenden Lizenzpreise. Eine Tatsache, die Budgets wie die zwölf Millionen Dollar für die Pilotepisode von «Lost» erklärt.

Trotzdem blieben die Network-Verantwortlichen um die Jahrtausendwende mit Serien wie «The Sopranos» vor der Nase und trotz ihrem immensen Erfolg besorgt um ihre Zukunft. Dann jedoch kam der überraschende Erfolg von «CSI», der den Network-CEOs die Augen öffnete für die Möglichkeiten, die ein fast vergessenes Format bot: das des Krimi-Procedurals - nicht nur was Inhalte betraf, sondern vor allem die grenzenlosen Möglichkeiten des Weiterverkaufs, sowohl in Syndication als auch ins Ausland. Im Jahre 2007 kündigte Leslie Moonves an, dass das «CSI»-Franchise CBS mittlerweile einen Gewinn von über zwei Milliarden Dollar beschert habe. Bis zum heutigen Tage dürfte sich diese Summe mindestens verdoppelt haben.

Wir kommen zur dritten Phase der Entwicklung von Quality Television - mehr dazu auf der nächsten Seite.

Es wurde die dritte Phase der Entwicklung von Quality Television eingeleitet, in der die Formate mit abgeschlossener Episodenhandlung (gekoppelt an fortlaufende Figurengeschichten) die Primetime dominierten.

Während im Jahre 2001 noch ungefähr zehn solcher Serien auf den Networks liefen, wurden es 2002 schon 13 und 2005 ungefähr 21 - gegenüber 9 Serien mit Fortsetzungshandlung. Die Produktionen, die im Krimiumfeld anzusiedeln sind, d.h. sich mit Aufklären von Verbrechen beschäftigen, bildeten bis 2010 nach wie vor mehr als 50 Prozent der Drama Series. Im „besten“ Jahr 2005 waren es ganze 17 Serien: Das «CSI»-Franchise, das «Law&Order»-Franchise, «Cold Case», «Crossing Jordan», «Medium», «NCIS», «Bones», «Close to Home», «Criminal Minds», «Veronica Mars», «Without a Trace», «Ghost Whisperer» und «Numb3rs».

Diese dritte Phase ist sehr eng an eine andere Entwicklung geknüpft, nämlich die technische. Damit sind vor allem zwei Prozesse gemeint: die fortschreitende Digitalisierung des Fernsehens, die Übertragung im 16:9-Format und gleichzeitig der veränderte Status des Fernsehens in der Zuschauerwahrnehmung, ermöglicht durch den Fortschritt der Empfangsgeräte. Die neuen Home Cinema Anlagen, verbunden mit riesigen Fernsehbildschirmen mit hoher Auflösung, machen aus der Fernsehübertragung ein Spektakel und ermöglichen es den Produkten, zur vollen ästhetischen Entfaltung zu gelangen. Dazu kommen noch alle Sorten von Recordern, die den Zuschauern erlauben, die Werbepausen zu überspringen.

Die großen Medienkonzerne waren Anfang des neuen Jahrhunderts damit beschäftigt Serien mit abgeschlossener Folgenhandlung auf Fließband zu produzieren und auszustrahlen, während sie ihre Kabelableger für Experimente im Bereich des horizontalen Erzählens nutzen. Nicht nur der Überschuss an Krimi-Serien mit „Fall der Woche“ sorgte vor ein paar Jahren für einen neuen Wandel, sondern auch die Zersplitterung der Zuschauer. Das lukrative Lizenzgeschäft führte dazu, dass innerhalb desselben Konzerns die Sender miteinander konkurrierten und immer mehr neue Serien bestellt wurden.

Wenn man bedenkt, dass im Jahre 1983 zirka 100 Millionen Amerikaner das Finale von «MASH» gesehen haben, fallen die zehn Millionen von «Breaking Bad» oder die 15 Millionen von «NCIS» mickrig aus. Aber trotzdem gelten beide Serien als Erfolge.

Man kann nicht genau den Zeitpunkt markieren, an dem die Sender das horizontale Erzählen für sich wieder entdeckt haben, aber wir befinden uns damit in der nächsten (vierten) Phase der TV-Serienentwicklung. Diese wird vom Aufkommen der Streaming-Dienste dominiert. Die Veränderungen des Fernsehens und der Wert der Produkte sind Ergebnisse eines nicht nur ökonomisch-technischen, sondern auch kulturellen Wandels hin zu einem verstärkten Individualismus trotz Massenmedien, im Zuge dessen jeder ermutigt wird, sein Recht zu beanspruchen - auf Befriedigung der spezifisch eigenen Bedürfnisse einerseits, auf Mitsprache andererseits. Der Zuschauer hat die Qual der Wahl – etliche Sender, unzählige Produkte, für die alle er nicht einmal die Zeit hat, sie zu konsumieren. Im Moment gleicht die Serienlandschaft einem Buchmarkt, auf dem jeder Geschmack bedient wird. Wann man das nächste Kapitel der ausgewählten Geschichte „sieht“, ist einem selbst überlassen.

Dadurch lassen sich horizontal erzählte Geschichten besser präsentieren und konsumieren und logischerweise befinden sie sich auch auf dem Vormarsch. In den knapp 25 Jahren, die wir uns hier angeschaut haben, ist auf dem amerikanischen Markt unheimlich viel passiert. Der europäische Markt muss all die Entwicklungen in noch kürzerer Zeit aufholen ohne auf Hollywoods Studiosystem zurückgreifen zu können. Ein anderes Problem ist das Erschaffen einer Art Serientradition und das Erschaffen von Sehgewohnheiten. Auf dem deutschen Markt besteht immer noch eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Zuschauer und dem tatsächlichen Angebot. Der Markt und die Zuschauer hatten nie die Gelegenheit sich zusammen zu entwickeln, so wie in Übersee. Die Zuschauer muss man sich „erziehen“. Außerdem sind die Konkurrenzverhältnisse hierzulande bis jetzt kaum vorhanden. Und wie man gesehen hat, schafft nur Konkurrenz Qualität.

Das richtige Rezept für die deutsche Serienlandschaft gibt es nicht, aber das Goldene Zeitalter der TV-Serie in Deutschland auszurufen, klappt nur dann, wenn man mehr als nur ein paar Serien pro Jahr produziert. Die Voraussetzungen für das Schaffen einer Serienlandschaft sind vorhanden und ich glaube, dass die Branche dieses Mal fest entschlossen ist, sie zu nutzen.
24.02.2016 15:09 Uhr  •  Vladislav Tinchev Kurz-URL: qmde.de/83956