Die Kritiker: «Der gute Göring»

Das Erste will in seinem Dokumentarspiel vom Bruder des NS-Kriegsverbrechers erzählen. Dennoch steht über weite Strecken Hermann Göring selbst im Mittelpunkt der Produktion.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Barnaby Metschurat («L’auberge espagnole») als Albert Göring, Francis Fulton-Smith («Die Spiegel-Affäre») als Hermann Göring, Anna Schudt («Der Kriminalist») als Emmy Göring, Natalia Wörner («Tannbach – Schicksal eines Dorfes») als Henny Porten, Agnes Lindström Bolmgren als Carin Göring, Thomas Ziesch als General Bodenschatz und andere


Hinter den Kulissen:
Regie: Kai Christiansen, Buch: Jörg Brückner und Gerhard Spörl, Musik: Eike Hosenfeld und Tim Stanzel, Kamera: Jan Kerhart, Schnitt: Barbara Toennieshen, Produktion: Vincent TV

Tatsächlich: Er ist eine vergessene Figur der Populärgeschichte. Nicht Hermann Göring, nein, dessen Leben wurde auch in aller Öffentlichkeit zur Genüge durchexerziert. Und wem es noch nicht zum Hals raus hängt, der sollte halt öfter mal bei ZDFinfo vorbeischauen. Vielmehr ist es der Bruder von Hermann Göring, Albert, der zumindest in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist. Diesem Albert Göring will sich der unter anderem von Sandra Maischberger als ausführende Produzentin verantwortete Film «Der gute Göring» im Ersten widmen, war er doch ganz im Gegensatz zu seinem Bruder an der Rettung zahlreicher Menschen beteiligt und häufig versucht, gegen das Regime und in Unterstützung des Widerstands zu Arbeiten.

Im Spannungsfeld zwischen der künstlerischen Freiheit eines Geschichtsdramas und der historischen Exaktheit einer Dokumentation will sich die Produktion zu keinem Zeitpunkt wirklich entscheiden und ist daher als Dokumentarspiel angelegt, also als eine Kombination aus dokumentarischen Sequenzen, O-Tönen und Reenactments, in denen historische Szenen durch Schauspieler nachgestellt werden. Dabei stechen seitens Hermann Göring harte Sätze wie „Wer Jude ist bestimme ich!“ heraus. Nicht, dass solche Sätze nicht zu Göring passen würden. Doch ist es eben schwierig, weil diese Aussagen von so hoher Bedeutung und so einschneidend sind, dass auch die künstlerische Freiheit an ihre Grenzen kommt – jedenfalls in der gegebenen Konzeption des Films. Als Spielfilm? Kein Problem. Aber so muss eben angemerkt werden, dass gerade Vieraugengespräche kaum wahrheitsgetreu wiedergegeben werden können, so sie nicht aufgezeichnet wurden. Und auch Augenzeugenberichte von dokumentierten Gesprächen stellen bekanntermaßen kaum die Realität dar. Schon alleine deshalb ist die konzeptuelle Entscheidung sowie deren Umsetzung ein Stück weit schwierig.

Die fünf großen Begegnungen
Zusätzlich ist es auch der Fokus der Produktion, der ungewöhnlich ist. Fünf große Aufeinandertreffen der beiden Brüder zwischen 1923 und 1945 dokumentiert der Film. Dabei gelingt es stets, die geschichtliche-epochalen Zusammenhänge von Wirtschaftskrise über Machtergreifung bis hin zur deutschen Besetzung darzustellen, obschon diese verhältnismäßig beiläufig eingestreut werden. Der dramaturgische Aufbau, der im Kern durch die Begegnungen der Brüder transportiert wird, wirkt so logisch stringent, dass man beinahe an eine Komplettinszenierung glauben könnte. Das ist freilich nicht so, doch zwischen einleitendem Treffen, Konfliktaufbau, Eskalation und Finale sticht zumindest das in der Mitte gelegene Treffen von 1939 heraus, das inhaltlich wenig brisant ist, aber Momente zeigt, die fast absurd wirken: So spielen Hermann und Albert Klavier, als stünde nichts zwischen ihnen. Hier wird das ambivalente Verhältnis der beiden vielleicht am stärksten herausgestellt. Aber auch zum Schluss gelingt dies erneut. „Wir sind doch Brüder“, erklärt Hermann Göring dann, nicht mehr weit entfernt von seinem Selbstmord, mit dem er der Exekution zuvorkam.

Warum aber ist dieser Albert Göring nun trotz seiner Handlungen nicht wirklich in der Masse angekommen? Diese Frage klammert der Film über weite Teile aus – zu seinem eigenen Schaden. Denn Relevanz hätte diese Thematik sicher geboten. Doch ohnehin ist es nicht wirklich die Geschichte Albert Görings, die erzählt wird. «Der gute Göring» jedenfalls ist als Titel nicht stimmig gewählt. Zwar wird am Anfang noch durchaus zurückhaltend die Geschichte Hermann Görings beschrieben, allerdings nimmt sie mit der Zeit überhand. Das Hauptaugenmerk liegt aber eben vor allem auf den gemeinsamen Begegnungen des Geschwisterpaares, von Albert allein gibt es nicht nur in den Reenactments wenig zu sehen, auch die Augenzeugenberichte oder Originalbilder betrachten selten die eigentliche Hauptfigur als solche. Dabei wären doch die Aktionen, in denen der Bruder Görings Menschen ihr Leben gerettet oder ihnen wenigstens die Freiheit geschenkt hat von hohem Interesse. Davon aber sieht der Zuschauer nichts, auch die Hintergründe werden kaum erläutert. Dazu kommen O-Töne über Personen, deren Zuordnung aufgrund des Schnitts häufig nur mit Mühe gelingt.

Haft und historisches Heldentum
35 Rettungen durch Albert Göring sind tatsächlich dokumentiert. Über 1000 müssen es aller Erkenntnis nach tatsächlich gewesen sein. Natürlich wäre es übertrieben jeden Einzelfall darzustellen. In vielen Fällen wäre das sicher nicht einmal ohne große Spekulation möglich. Doch allein die Tatsache, dass die Nachkriegsgeschichte von Albert (immerhin lebte er noch bis 1966) in knapp zehn Minuten abgerissen wird, ist letztlich mehr als fragwürdig. Auch Handlungsaspekte wie die Festnahme von Albert durch die Alliierten (in der Annahme ein Göring könne niemals gut sein) werden nur am Rande thematisiert, während sich Hermann Göring im Vordergrund fälschlicherweise als Held der Historie wähnt.

Gespielt von Francis Fulton-Smith kauft man dem dicken Göring ferner nicht immer all seine Geschichten ab: Zu unglaubwürdig im Sprachduktus und zu wenig nachdrücklich in der Mimik weiß Fulton-Smith nicht wirklich zu überzeugen, anders in seiner letzten großen Historienfigur als Franz-Josef Strauß. Besser agieren unterdessen Nebenakteure wie Natalia Wörner, die die Filmschauspielerin Henny Porten darstellt. Und auch Albert Göring (gespielt von Barnaby Metschurat) überzeugt inhaltlich, selbst wenn er äußerlich phasenweise einem Mafiosi gleicht. Das alles täuscht aber nicht über den unausgewogenen Mix von Reenactments, O-Tönen und historischen Bildern hinweg. Viel zu viel ist insgesamt nachgestellt, der Rest bleibt nur eine Randerscheinung, dafür gibt es ab und an unpassende Landschaftsbilder. So zeigt der Film die Abendsonne am Strand, wenn von Italien die Rede ist. Ist das mit den mangelnden Originalbildern noch verzeihlich – möglicherweise gab es einfach zu wenig passende Aufnahmen – so ist das Fehlen von O-Tönen schmerzlicher. Denn selbst weniger relevante Personen zu befragen wäre immer noch interessanter gewesen als das so entstandene Produkt. Doch auch die tatsächlich angetroffenen Augenzeugen werden nur selten eingespielt, das Potenzial kaum genutzt.

„Wir haben schnell gesehen, dass die Geschichte der zwei ungleichen Brüder viel hergibt“, erklärte Produzent Matthias Martens im Vorfeld der Ausstrahlung. Das alleine stimmt wohl auch. Nur genutzt wurde dieses Potenzial nicht wirklich, vor allem nicht in Betrachtung des Titels, der den Fokus auf Albert setzt. Ein solches Dokumentarspiel für sich betrachtet kann ein sinnvoller Weg sein, sich historischen Ereignissen anzunähern. Wenn allerdings die geschichtliche Rahmenbetrachtung außer Acht gerät und nur Einzelereignisse betrachtet werden, so birgt das Gefahr. Die Produktion jedenfalls setzt den Fokus tatsächlich eher auf Hermann Göring und das Verhältnis zu seinem Bruder. Und so kommt es wohl, dass Albert Göring nicht nur eine vergessene Figur der Geschichte ist. Nein, er ist auch die vergessene Figur in einer Dokumentation, die sich eigentlich exakt seiner Person widmen sollte.

«Der gute Göring» ist am Sonntag, 10. Januar um 21.45 Uhr im Ersten zu sehen.
09.01.2016 17:28 Uhr  •  Frederic Servatius Kurz-URL: qmde.de/83019