Deutschland: Die Republik der Supermuffel?

Mit «Ant-Man» läuft aktuell der jüngste Film in einer langen, langen Reihe an Superheldenabenteuern im Kino. Doch sind deutsche Zuschauer überhaupt so comicaffin wie das US-Publikum?

Seit Jahren überschwemmt Hollywood den Kinomarkt mit Verfilmungen von Superheldencomics – aktuell etwa läuft Marvels «Ant-Man» in den Lichtspielhäusern dieser Welt. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Nicht bloß, weil die Studios Disney/Marvel, Warner Bros./DC Comics und Fox bereits für mehrere Jahre im Voraus ihre nächsten Projekte angekündigt haben. Sondern vor allem, weil die Geschichten über Helden in enger Lack-, Metall- oder Lederkleidung in ihrem Heimatland stolze Summen einfahren. Allein am Startwochenende generierte «Ant-Man» in den USA und Kanada über 57 Millionen Dollar ein – und dabei ist dieses ansehnliche Ergebnis tatsächlich eines der schwächsten, die das Superheldengenre in den vergangenen Jahren zustande brachte! Doch nicht nur in den USA kommen die Comicadaptionen hervorragend an: Unter den 100 kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten außerhalb von der USA und Kanada befinden sich derzeit 16 Produktionen, die auf einem Superheldencomic basieren. Demnach ist rund jeder sechste Film, der es in die Top 100 schafft, Teil dieses unentwegt wachsenden Genres.

Wie aber sieht es in Deutschland aus? «Ant-Man» nimmt an seinem Startwochenende gerade einmal Kurs auf Rang drei oder vier der hiesigen Kinocharts. Ist die Story des ungewöhnlichen Helden, der auf Knopfdruck schrumpfen und wieder zurück auf Menschengröße wachsen kann, bloß ein Ausreißer? Oder ist die Bundesrepublik tatsächlich ein Land der Superheldenmuffel?

Der Top-Ten-Test

Sonderfall «Men in Black»

Deutschlands liebste Comicadaption handelt weder von Superhelden, noch erschien die Vorlage ursprünglich bei einem der großen Comic-Verleger: Mit 7,4 Millionen Besuchern sind die Anti-Alien-Agenten der «Men in Black»-Truppe eine nicht ganz so kleine Abnormalität an den deutschen Kinokassen. In unserer Auswertung haben wir beschlossen, die coolen Agenten nicht als Superhelden zu zählen – Grundsatzdebatten sind in den Kommentaren gestattet.
Ein Blick auf die jährlichen Top Ten der erfolgreichsten Kinoproduktionen gibt bereits eine deutliche Tendenz vor, wie obige Frage zu beantworten ist. Seit Sam Raimis «Spider-Man» 2002 die moderne Ära der Comicverfilmungen in Gang gesetzt hat, sind Superhelden, die erstmals in Sprechblasengeschichten auftauchten, nicht mehr aus den US-Charts wegzudenken. Von 2002 bis einschließlich 2008 platzierte sich jährlich mindestens eine Verfilmung eines Marvel- oder DC-Superheldencomics in den zehn Spitzenrängen der Jahrescharts. 2006 waren es mit «X-Men: Der letzte Widerstand» und «Superman Returns» sogar gleich zwei Werke, 2008 sorgten «The Dark Knight» und «Iron Man» ebenfalls für ein Doppel. Nach einer Verschnaufpause 2009 ging die Superheldendominanz mit neuer Vehemenz weiter: 2011 holte nur «Thor» einen Top-Ten-Rang, 2012 gelang wiederum drei Filmen dieses Kunststück, 2013 zwei Werken, 2014 wiederum sogar vier Filmen («Guardians of the Galaxy», «The Return of the First Avenger», «X-Men: Zukunft ist Vergangenheit», «Baymax – Riesiges Robowabohu»). Kurzum: Überwältigende 20 Filme in 13 Jahren landeten auf Spitzenrängen!

Und was hat Deutschland dem entgegenzusetzen? Bloß weniger als die Hälfte! Gerade einmal sechs Superheldeneinsätze mit Comicvorlage sicherten sich von 2002 bis 2014 einen Top-Ten-Platz, womit die Bundesrepublik auch hinter Frankreich liegt. Unsere Nachbarn, denen man am Stammtisch aufgrund ihrer eigenen florierenden Comicszene ziemlich vorschnell eine Superheldenallergie zuschreibt, manövrierten immerhin acht Stück in ihre Jahres-Top-Ten des besagten Zeitraums. Während in den USA das Publikum also ein breites Spektrum an Comicsuperhelden feiert, sind deutsche Kinogänger um einiges weniger experimentierfreudiger – auch Frankreich zeigt sich dahingehend mutiger.

Deutschlands Favoriten: Ein dunkler Fledermausritter und eine freundliche Spinne aus der Nachbarschaft
Insgesamt sind hiesige Kinobesucher also vorsichtig, was neue Helden angeht. Zwei Superhelden ziehen in Deutschland aber mit recht großer Verlässlichkeit: Batman und Spider-Man. Während DCs dunkler Ritter mit seinen sieben bislang veröffentlichten Filmen auf durchschnittlich 1,77 Millionen losgelöste Tickets kommt, gingen Peter Parker im Laufe seiner fünf Kinomissionen sogar im Schnitt 2,86 Millionen Menschen ins Netz! Die Entwicklung bei den beiden Heroen ist aber entgegengesetzt: Während der Vigilante im Fledermauskostüm mit seinem jüngsten Film gleichzeitig seinen bis dato größten Kassenschlager feierte («The Dark Knight Rises» fesselte 2012 3,25 Millionen Filmfans), ging es für Spider-Man konstant abwärts. 2002 setzte der Netzschwinger mit umwerfenden 5,19 Millionen verkauften Eintrittskarten (Platz fünf der Jahrescharts) ein Zeichen, dann folgten die Sam-Raimi-Sequels mit weiterhin sehr guten 3,29 und 3,17 Millionen Zuschauern. Das «The Amazing Spider-Man»-Reboot kam noch auf 1,54 Millionen (guter 16. Platz), bevor 2014 dessen Sequel nur noch 1,11 Millionen Menschen ansprach (durchwachsener bis mäßiger 32. Rang).

Übrigens: Sämtliche Spider-Man-Filme holten in Frankreich mehr Besucher und errangen zugleich einen besseren Platz in den jeweiligen Jahrescharts. Dies lässt sich ausgerechnet über den Megaerfolg «The Dark Knight» nicht sagen: In Deutschland seinerzeit auf Platz acht gelandet, reichte es in Frankreich nur für die zehnte Position. Dass die Franzosen generell bunte, spaßige Superheldenaction bevorzugen, sollte man daraus aber nicht herauslesen. «Guardians of the Galaxy» gelang in der Bundesrepublik schließlich der Top-Ten-Einzug, während es in Frankreich für Star-Lord und Co. nicht einmal für die Top 15 genügte.

Das «Captain America»-Problem
So sehr sich Batman und Spider-Man ein Platz im Herzen deutscher Kinogänger erobert haben, so schwer tut sich Marvels aufrichtigster Kämpfer fürs Gute: Supersoldat Steve Rogers alias Captain America. Sein 2011 gestarteter Solofilm «Captain America – The First Avenger» generierte in den USA löbliche 176,65 Millionen Dollar und landete somit auf Rang 12 der Jahrescharts. Weltweit standen akzeptable 370,57 Millionen auf dem Konto der Regiearbeit von Joe Johnston – und in der BRD? Hier lösten gerade einmal 339.797 Menschen eine Karte für den Superheldenfilm. Dies bedeutete einen miesen 97. Platz in den Jahrescharts, während es etwa in Frankreich wenigstens für Rang 49 bei 1,06 Millionen Besuchern reichte.

Und auch der «Avengers»-Schub half Captain America hierzulande wenig. Zwar legte sein nach dem Marvel-Heldencrossover veröffentlichte Film deutlich zu, genauso wie auch die Fortsetzungen von «Thor» und «Iron Man 2» bessere Zahlen schrieben. Dennoch hatte «The Return of the First Avenger» sogar trotz Titeländerung nur eine Position unter ferner liefen: 823.228 Besucher führten zu Rang 43 in den deutschen Kinocharts 2014. Und dass dies ein urdeutsches Problem ist, zeigt ein Blick auf das globale Einspielergebnis: Wenn man die Einnahmen aus den USA und Kanada rausrechnet, ist «Captain America – The Winter Soldier» (so der Originaltitel) mit 455,0 Millionen Dollar Einspiel international erfolgreicher als die 441,0 Millionen Dollar schweren «Guardians of the Galaxy». Um noch ein letztes Mal Frankreich zu einem Vergleich heranzuziehen: Unsere Nachbarn, die genauso große Gründe hätten, einer einstigen Propagandafigur zweifelnd gegenüberzustehen, lösten 1,92 Millionen Eintrittskarten und verhalfen dem Politthriller zum 25. Platz in ihren Jahrescharts. Weltweit wurden 714,77 Millionen Dollar in die Kassen von Disney und Marvel gespült – aber in Deutschland scheiterte der immense Welthit sogar an der Eine-Millionen-Besucher-Marke.

Ein Fazit
Während Captain America gutes Recht hätte, zu denken, Deutschland sei ein Land voll Superheldengegner, fällt das Gesamtfazit gnädiger aus. Nur wenige international gefragte Superheldenfilme floppen in Deutschland völlig – hierzulande fallen lediglich die Spitzen beschaulicher aus, in denen sich das Heldenfieber äußert. Mit 2,25 und 2,39 Millionen Besuchern sind beide «Avengers»-Filme in Deutschland gut besucht, bloß scheitern beide am Phänomenstatus, den sie in vielen, vielen anderen Ländern aufweisen. Im Schnitt generierten die elf ersten Filme des 'Marvel Cinematic Universe' 1,26 Millionen Besucher. Beschränkt man sich auf die sogenannte Phase zwei (und ignoriert somit automatisch die hiesigen Megaflops «Der unglaubliche Hulk» und «Captain America – The First Avenger»), stehen sogar 1,66 Millionen Durchschnittszuschauer zu Buche. 2014 hätte es für diesen fiktiven Marvel-Durchschnittsfilm also für Rang 14 der Jahrescharts gereicht – direkt hinter Christopher Nolans «Interstellar». Und gerade dessen Batman-Reihe zeigte, wie sehr Superhelden hierzulande an Popularität gewinnen können. Immerhin scheiterte «Batman Begins» auch an der Millionen-Marke, was den Fortsetzungen mühelos gelang. Schlecht ist das wahrlich nicht. Aber ja: Die größte Superheldenbegeisterung kann man den Deutschen nicht zuschreiben, sondern bloß ein gesundes Grundinteresse. Es sei denn, Captain America ist die Hauptfigur. Dann suchen deutsche Kinobesucher das Weite.
25.07.2015 14:00 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/79724