Eklat bei «Unser Song für Österreich»: Der Gewinner des «ESC»-Vorentscheids nimmt die Wahl nicht an und spontan wurde die Zweitplatzierte Ann Sophie zur deutschen Eurovision-Interpretin erkoren. Haben die Verantwortlichen korrekt gehandelt?
Das ebenso Reizvolle wie Gefährliche an Live-Shows aller Art ist deren Unvorhersehbarkeit, wie man am Donnerstagabend am Ende von «Unser Song für Österreich» eindrucksvoll zu sehen bekam. Ausgerechnet im Moment der größten Spannung und des überschwänglichsten Jubels eine dermaßen große Abfuhr des Sieger-Acts zu bekommen, wie sie nicht nur Moderatorin Barbara Schöneberger, sondern das gesamte für die «ESC»-Organisation verantwortliche Team des Norddeutschen Rundfunks erfahren hat, dürfte so mit die größtmögliche Katastrophe gewesen sein. Wie die Moderatorin in dieser Ausnahmesituation bestmöglich hätte reagieren können, wird in den kommenden Tagen, vielleicht sogar Wochen, die deutsche Berichterstattung rund um den «Eurovision Song Contest» prägen. Schöneberger hat sich für die Variante "The Show must go on" entschieden - gewiss diskutabel, aber gewiss auch nicht die schlechteste Wahl, die sie in diesem Moment der allumfassenden Ratlosigkeit hätte treffen können.
In Momenten wie diesen gibt es keine befriedigende Lösung, da der demokratisch gewählte Akteur die Wahl des "Volkes" nicht annimmt und man deshalb auf einen Notnagel zurückgreifen muss. Allerdings hätte es auch keinen alternativen Weg gegeben, diesen "Coitus Interruptus" abzuwenden. Eine Vertagung der Entscheidung hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit dasselbe Ergebnis zutage befördert, das nun immerhin bereits feststeht. Der unwahrscheinliche alternative Weg, dass Kümmert einen Rückzieher vom Rückzieher macht, hätte ebenso ein Geschmäckle gehabt und den «ESC»-Fans gewiss nicht den Eindruck vermittelt, dass der Künstler sein Land im Mai mit vollem Eifer vertritt. So steht nun zumindest eine klare Entscheidung und es gibt Planungssicherheit für alle Beteiligten. Ohne die klare Kante von Schöneberger wären die nächsten Tage und Wochen von einem medialen Wettstreit um die abenteuerlichste Vorstellung davon geprägt gewesen, wie der NDR nun vorzugehen hat - was letztlich vor allem den Künstlern nicht gerecht geworden wäre.
Im Laufe des Vorentscheids wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass der «Voice of Germany»-Gewinner Andreas Kümmert derzeit an einer Grippe erkrankt und daher zumindest geistig nicht so wirklich vor Ort ist. Als der sich zumeist von seiner bescheidenen Seite zeigende, dennoch auch als impulsiv geltende Blues- und Rocksänger, dann auch noch als Sieger des «Eurovision Song Contest»-Vorentscheids ausgerufen wurde, darf man wohl eins annehmen: Der Musiker wird in diesem Moment ordentlich unter Schock gestanden haben. Das war auch seiner nervös vorgetragenen, mehrmals abgebrochenen Reaktion zu entnehmen, als er meinte, dem Publikumsvoting widersprechen und den Titel an Ann Sophie übertragen zu wollen.
Wie man hätte reagieren sollen? Nun, Schöneberger hatte es zugegebenermaßen ungeheuerlich schwer, ein vernünftiges Ende der Show einzuleiten. Statt aber – gewiss im Namen der Regie – Ann Sophie den Titel zu schenken, hätte man sie provisorisch erstmal nur bitten können, zum Abschluss des Abends ihren Titel vorzutragen. Mit dem Hinweis, dass man in den kommenden Tagen in aller Ruhe eine Entscheidung zu treffen gedenkt. Was, wenn Kümmert bereits im Laufe der Nacht, sobald das Adrenalin nachlässt und vielleicht auch das Fieber, sein Gerede auf der Bühne bereut? Dann könnte er sich entschuldigen und verdient nach Wien fahren, um im Namen der Zuschauer für Deutschland anzutreten. Wenn er in fünf bis sieben Tagen an seinem spontanen Entschluss festhält? Dann kann man Ann Sophie noch immer – ganz korrekt – zur Gewinnerin küren. Und dies rational ergründen, gerne auch ehrwürdig zelebrieren. So unkoordiniert wie es ablief, wird dieser Abend garantiert keine angenehme Karriereerinnerung für die 24-Jährige. Und das muss wahrlich nicht sein, denn sollte sie in Wien nicht in der oberen Hälfte des Rankings landen, werden die medialen Wölfe eh schon über sie herfallen. Mit einer «Eurovision Song Contest»-Teilnahme ist eh eine grausame Fallhöhe verbunden, nun muss man nicht auch noch ein Vorentscheid-Trauma gestatten. Geschweige denn, wie im Fall Kümmert, einem Künstler die Möglichkeit rauben, das zu revidieren, was er auf der Bühne im Affekt so alles gesagt hat.