Please Don't Get Lost...

Damon Lindelofs neue Serie bei HBO startete mit einem Paukenschlag. Ein First Look.

Hinter den Kulissen

  • Produktion: Warner Bros. Television
  • Schöpfer: Damon Lindelof und Tom Perrotta
  • basierend auf dem gleichnamigen Roman von Tom Perrotta
  • Darsteller: Justin Theroux, Amy Brenneman, Christopher Eccleston, Ann Dowd, Amanda Warren, Liv Tyler u.v.m.
  • Executive Producer: Damon Lindelof, Tom Perrotta, Ron Yerxa, Albert Berger und Peter Bert
Der Weg sei das Ziel, hieß es von Damon Lindelof und seinem Kollegen Carlton Cuse in den späteren Staffeln von «Lost» immer. Was, wie auch der optimistischste Zuschauer nach dem Finale feststellen musste, nur eines hieß: An eine kohärente, detaillierte Auflösung des sechs Jahre lang aufgebauten Geflechts aus Rätseln, Cliffhangern und offenen Fragen war nicht zu denken. Stattdessen versuchte man, mit allerhand vagem Mystizismus noch zu einem halbwegs würdigen Ende zu finden. Das Echo fiel verhalten bis negativ aus.

Dass «Lost» keinen befriedigenden Schlusspunkt gefunden hat, liegt in erster Linie daran, dass es nie einen ausgefeilten Masterplan gegeben hat, um den Mystery-Teil des Plots ansprechend und sinnig aufzulösen. Der große zeitliche Druck, unter dem die erste Staffel hergestellt wurde, und das damit einhergehende grenzenlose Chaos (im Detail nachzulesen in Alan Sepinwalls hervorragendem Buch „The Revolution was Televised – The Cops, Crooks, Slingers and Slayers Who Changed TV Drama Forever“) scheinen das nicht zugelassen zu haben.

Mit «The Leftovers» hat Lindelof einen deutlich entspannteren Ausgangspunkt als vor zehn Jahren mit «Lost»: Die belletristische Vorlage seines Co-Creators Tom Perrotta gibt einen klaren Fahr- (und Master-)plan vor, der sich einer genauen Untersuchung – geschweige denn einer Erklärung – der unerhörten mystischen Begebenheit gänzlich verweigert. Der Status quo ist dabei so simpel wie dramaturgisch vielversprechend:

Vor drei Jahren sind zwei Prozent der Menschheit spurlos verschwunden. Ohne Erklärung, willkürlich, einfach so. Was mit ihnen passiert ist, ob sie gestorben sind, wo sie sich aufhalten, sofern sie doch noch am Leben sind, das weiß keiner. Kinder haben ihre Eltern verloren, Männer ihre Frauen. Dieser seltsame apokalyptische Zustand fühlt sich – zumal er auch in «The Leftovers» anhand einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt aufbereitet wird – ein wenig wie ein umgedrehtes «Resurrection» an: Anstatt dass die Toten zurückgekehrt sind, sind viele, die gerade noch quicklebendig unter uns weilten, auf einmal nicht mehr da.

Im narrativen Zentrum steht die Familie Garvey. Vater Kevin versucht als Polizeipräsident nicht nur die Stadt, sondern auch seine Liebsten zusammenzuhalten. Vergeblich: Seine Frau Laurie hat sich einer sonderbaren Sekte angeschlossen, den „Guilty Remnants“, also den schuldigen Zurückgebliebenen, die im Zuge ihrer verbohrten Askese sogar auf das Sprechen verzichten und sich des Zettelschreibens bedienen, wenn Kommunikation mal unbedingt sein muss. Sie haben es sich zum Lebensinhalt gemacht , das Wissen um die Geschehnisse von vor drei Jahren in der Menschheit wach zu halten. Kurz gesagt: ein ziemlich gruseliger Haufen.

Sohn Wayne ist derweil irgendwo in der Wüste von Nevada in einer anderen Sekte gelandet, während Kevins Tochter Jill gegen ihren Vater rebelliert – der mit Abstand schwächste Plot des überlangen Piloten.

Thematisch zentral ist aber glücklicherweise die Sinnsuche nach der Katastrophe. Und hier geht «The Leftovers» deutlich mehr in die Tiefe als das ähnlich gelagerte «Resurrection» aus der Network-Riege: Auch drei Jahre nach dem plötzlichen Verschwinden von zwei Prozent der Menschheit ist keine tragfähige wissenschaftliche Erklärung in Sichtweite. Viele halten das Ereignis daher für die Rapture, das Jüngste Gericht, in dem Jesus Christus – wie in der Bibel angekündigt – am Ende aller Tage den rechtschaffenen, geläuterten Teil der Menschheit zu Gott in den Himmel holt, während die Erde mit großen Schritten auf das Armageddon zugeht. Kritiker dieses religiösen Erklärungsmodell weisen derweil auf die Beobachtung hin, dass die zwei Prozent Verschwundenen moralisch, ethisch und religiös eine hoch differenzierte Gruppe darstellen, mit allen möglichen Lebensgeschichten und Einstellungen. Während viele der Rechtschaffen(er?)en auf der Erde zurückgeblieben sind.

Lindelof und Perrotta gelingt es dabei vortrefflich, diese abstrakten, teilweise hoch philosophischen Fragen geschickt anhand vielschichtiger Figuren und ihrer interessanten, im Rahmen der Möglichkeiten des Sujets immer plausiblen Handlungsweisen fassbar zu machen. Das Schauspielerensemble erweist sich dabei als durchwegs fähige Besetzung: grandios, wie Amy Brenneman als Kevin Garveys willentlich stumme Gattin eine enorme Bandbreite an Emotionen und Haltungen darstellen kann.

Bleibt zu hoffen, dass Lindelof und Perrotta sich nicht irgendwann im Melodram verheddern, sondern auf diesem sinnigen, dramaturgisch komplexen Weg bleiben werden. Diesmal ist der sogar tatsächlich das Ziel.
02.07.2014 11:20 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/71600