Die Kritiker: «Unter Verdacht - Türkische Früchtchen»

Inhalt
In einem Münchner Bus versuchen zwei junge Deutsch-Türken, die Brüder Aslan und Murat, einem Jugendlichen das Smartphone "abzuziehen". Hauptkommissar André Langner kriegt das mit und schreitet als einziger Fahrgast ein. Die Situation eskaliert. Auf dem Busbahnhof kommt es zu einer unübersichtlichen Auseinandersetzung, an deren Ende Langner schwer verletzt am Fuße einer Treppe liegt. Wieder haben zwei Jugendliche einen couragierten Bürger aus nichtigem Anlass halb tot geprügelt, heißt es sehr schnell. Ohne alle Fakten zu kennen, will Staatsanwalt Barnabas die von der Presse als "Brutalo-Brüder" vorverurteilten Jugendlichen hart bestrafen, ihm geht es um die Verteidigung des öffentlichen Raums. Doch sein wichtigster Zeuge, Hauptkommissar Langner, kann sich seit seinem Sturz nicht mehr an den Hergang des Geschehens erinnern.

In diesem Vakuum machen sich Zerrbilder von Tätern und Opfer breit: Die Jugendlichen werden als Monster dämonisiert, Langner als Held überhöht. Aus dem Fall wird ein Politikum. Ministerialdirigent Haberfeldt sieht die Möglichkeit, auf Volkes Stimme zu hören und das Jugendstrafrecht zu verschärfen. Längst geht es nicht mehr um die Wahrheit, der Fall wird gnadenlos instrumentalisiert.

Dr. Eva Maria Prohacek stellt sich alleine gegen die Übermacht des Konsens. Als einzige will sie wissen, was wirklich auf dem Busbahnhof passiert ist. Kann sie den türkischen Heimzöglingen Glauben schenken, die behaupten, dass Langner sie zuerst geschlagen hat und dann ohne ihr Zutun die Treppe hinunter gestürzt ist?

Aslan und Murat wissen, dass ihnen niemand glauben wird, sie fühlen sich zu Unrecht beschuldigt und kochen vor Wut. Doch auch André Langner gerät immer tiefer in eine existentielle Krise. Er soll das Gesicht einer Initiative für Zivilcourage werden und einen Orden erhalten. Selbst Dr. Reiter ist auf seinen ungeliebten Mitarbeiter diesmal stolz, wenn auch aus opportunistischen Gründen. Doch Langner dämmert längst, dass die ihm zugedachte Heldenrolle nicht der Wahrheit entspricht. Eva Prohacek unterstützt ihren Kollegen gegen alle Widerstände bei seiner Erinnerungsarbeit, an deren Ende wieder sein wahres, fehlerhaftes Selbst steht. Und sie kämpft um Gerechtigkeit für die chancenlosen türkischen Brüder. Als Staatsanwalt Barnabas gewahr wird, dass er auf Langner als Zeugen nicht mehr zählen kann und er die Felle davon schwimmen sieht, reagiert er kaltblütig. Er lässt Aslan unvermittelt aus der U-Haft frei, in der Annahme, dass er sich am Verursacher seiner Pein rächen wird. Aslan und Langner steuern auf eine Tragödie zu.

Darsteller
Senta Berger («Und alle haben geschwiegen») als Dr. Eva Maria Prohacek
Rudolf Krause («Nocturne») als André Langner
Gerd Anthoff («Der Bulle von Tölz») als Dr. Claus Reiter
Stephan Grossmann («München 72 – Das Attentat») als Staatsanwalt Barnabas
Ulas Kilic («Flemming - Das Gesetz des Blutes») als Serif Sener
Aram Arami («Fack Ju Göhte») als Aslan Celik
Sami Abdel Fattah («Bis zum Ende der Welt») als Murat Celik
Sabrina Strehl («Der Wald») als Martina
Sven Kramer («Frankenberg») als Jörg

Kritik
Jugendkriminalität und Vorurteile gegenüber Deutschen mit ausländischen Wurzeln gehört zu den ganz heißen Eisen, wenn es darum geht, einen glaubwürdigen Film mit Aussage zu drehen. Regisseur Martin Weinhart hat sich an dieses heiße Eisen herangewagt, ohne sich zu verbrennen. In diesem gelungenen Krimidrama der «Unter Verdacht»-Reihe im Zweiten wird mit den Erwartungen des Zuschauers gespielt, statt eindimensionale Klischees zu bedienen.

Dabei erwecken die ersten Minuten der TV-Produktion einen ganz anderen Eindruck. Die aggressiven Deutschtürken schmeißen während und nach der Eröffnungsszene mit Schimpfwörtern um sich, von denen „Bullenpisser“ mit weitem Abstand noch das netteste aus einem bunten Strauß vulgärer Hasstiraden darstellt. Zum schimpfwortlastigen Straßenslang des verdächtigten 17-jährigen Aslan gesellen sich schnell sein unkontrollierbarer, gelegentlich übertrieben wirkender Jähzorn und seine Respektlosigkeiten gegenüber den Sozialhelfern im Heim. Die Figur offenbart erst im Laufe des Films seine andere, verletzliche und nette Seite, die vor allem gegenüber seinem kleinen Bruder Murat immer wieder aufblitzt. Für ihn übernimmt er als wichtigste Bezugsperson Verantwortung. Murat versucht hingegen Aslan beizustehen und ihn in seinem oft wütenden Aktionismus zu bremsen. Den Charakteren ist die von Ausgrenzung geprägte, problematische Vergangenheit, als sie von Heim zu Heim geschickt wurden ebenso anzumerken, wie auch ihre Loyalität zu einander. Von Aram Arami und Sami Abdel Fattah werden die beiden Geschwister mit großer Hingabe verkörpert.

Ebenso überzeugt Rudolf Krause als Hauptkommissar André Langner, dem seine Unwissenheit über den wahren Tathergang sichtlich zu schaffen macht. In der ihm von Staatsanwalt, Politik und Boulevard aufgedrängten Rolle des aufopferungsvollen Helden fühlt sich Langner äußerst unwohl. Vor allem der berechnende Staatsanwalt Barnabas, ein „harter Hund“ und Verfechter schärferer Jugendstrafen, versucht den Polizist auf ein Podest zu heben. Der sympathisch sachliche Gegenpart zu all der Panikmache tritt in Form der unnachgiebigen Ermittlerin Eva Prohacek, gespielt von Senta Berger, auf. Die Polizistin lässt die mediale Hetzjagd um die „Brutalo-Brüder“ völlig kalt. Stattdessen geht sie völlig unvoreingenommen an den Fall heran, in den immerhin auch ihr geschätzter Kollege verwickelt ist.

Die Handlung steigert die Spannung langsam, aber stetig und kann mit einem gut durchdachten Ende aufwarten. Zu den Highlights gehören die stillen Momente des Zweifels, die Kommissar Langner in den Wahnsinn treiben. Er schwankt zwischen Täter und Opfer, zwischen Wut und Depression. Das Bild ist zumeist in gedeckten, eher dunklen Farben gehalten, während die Musik nur sehr gezielt und wenn dann auch nur dezent zum Einsatz kommt.

«Türkische Früchtchen» ist ein Film, der der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Bei der Vorverurteilung aufgrund der Herkunft der Jugendlichen gehen Staatsanwaltschaft, Politik und Boulevard Hand in Hand und bekommen folgerichtig ihr Fett weg. Mit reißerischen Überschriften auf den Titelblättern und Handyfotos des Schwerverletzten versuchen die Revolverblätter die Angst im Land vor Übergriffen zu schüren. Bajuwarische Hardliner versuchen hingegen den laufenden Fall für ihre Politik zu missbrauchen und Langner in eine medienwirksame Anti-Gewalt-Kampagne einzuspannen. Doch auch die andere Seite der Waage bekommt ein Gesicht. Der türkischstämmige Verteidiger der Angeklagten, Serif Sener, kämpft zwar ebenfalls mit harten Bandagen, versucht aber die nötige Sachlichkeit in die Angelegenheit zu bekommen. Er sieht in den Verdächtigten Jungs keine Gewalttäter, sondern ganz normale Jugendliche mit den üblichen Flausen im Kopf. Dabei sind die beiden sicherlich keine Unschuldslämmer.

Durch die vielschichtige Betrachtungsweise, mit der der Krimi auf Jugendkriminalität und Vorverurteilung eingeht, wirkt die Thematik äußerst differenziert beleuchtet. Desweiteren wissen die Darsteller durch leidenschaftliches Spiel zu überzeugen und auf einen kitschigen Schluss wird lobenswerterweise auch verzichtet. Stattdessen bekommt man einen spannenden, mit Sozialkritik gewürzten TV-Krimi vorgesetzt, der vor allem denjenigen schmecken wird, denen die Praktiken von Boulevardjournalisten und Rechtspopulisten zuwider sind.

Das Zweite zeigt «Unter Verdacht: Türkische Früchtchen» am 26. April um 20.15 Uhr.