«Lone Ranger»: Ein wilder Ritt durch die weite Genreprärie

Film des Monats: Das «Fluch der Karibik»-Erfolgsteam erlebte mit seinem verrückten Western in den USA eine böse Bruchlandung. Wir verraten, weshalb sich der Kinobesuch dennoch lohnt.

Die Produktionsprobleme

Schon im Mai 2007 machten Gore Verbinski, Jerry Bruckheimer, Johnny Depp sowie Ted Elliott & Terry Rossio bekannt, eine Neuverfilmung von «Lone Ranger» in Angriff nehmen zu wollen. Nachdem sich Disney und Bruckheimer die Filmrechte an der angestaubten Kultfigur sicherten, wurde jedoch öffentlich, dass sich Gore Verbinski von diesem Vorhaben verabschiedete. Mehrere Jahre zogen ins Land, in denen ein neuer Regisseur gesucht wurde. Im September 2010 kehrte Verbinski zum Film zurück und verlieh ihm einen neuen Dreh, indem er einen komplexeren Tonfall und Tonto als Erzähler vorschlug. Kurz vor Drehbeginn stoppte Disney das Projekt, da das Studio das veranschlagte Budget als zu hoch erachtete. Depp, Bruckheimer und Verbinski kürzten ihre Gagen und nahmen Einsparungen am Drehplan und an Details wie der Komparsenzahl vor, woraufhin «Lone Ranger» grünes Licht erhielt. Aufgrund von Unwettern und steten Neu- sowie Umbauten der Sets und Requisiten kletterte das Budget dennoch in die vor dem Produktionsstopp anvisierten Dimensionen.
Wieso sollte man «Lone Ranger» überhaupt irgendeine Spur von Aufmerksamkeit zuteil kommen lassen? Immerhin ist dieser dröhnend beworbene Disney-Streifen in den USA katastrophal durchgefallen, und zwar sowohl an den Kinokassen als auch bei den Filmkritikern. Giftige US-Besprechungen beschrieben den Western als ein Zugunglück, neben dem die im Film gezeigten Eisenbahnunfälle verblassen, während auf finanzieller Seite für Disney und Jerry Bruckheimer Films nicht gerade viel Schotter übrig bleiben dürfte: Die Umsetzung des aufwändigen Projekts soll zwischen 215 und 260 Millionen Dollar verschlungen haben, auf dem nordamerikanischen Markt generierte es allerdings bislang bloß schlappe 87 Millionen.

Jedoch muss der vorläufige US-Konsens nicht der Weisheit letzter Schluss sein, insbesondere nicht bei verqueren Vertretern des Westerngenres. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Monumentalwestern mit schwieriger Produktionsgeschichte in den Staaten verrissen und in Europa geachtet wird: «Heaven's Gate», ursprünglich auf ein Budget von 11,6 Millionen Dollar veranschlagt und letztendlich für 44 Millionen Dollar vollendet, wurde 1980 nach seinem US-Start böse von der Presse abgestraft und vom Publikum sträflich vernachlässigt. In Europa aber gewann der Film, der sein Produktionshaus in den Bankrott trieb, nach seiner Aufführung bei den Filmfestspielen in Cannes zahlreiche Verehrer unter Kritikern und Filmemachern. Gore Verbinskis wilder Westernritt «Lone Ranger» ist zwar nur ein entfernter Verwandter von Michael Ciminos zivilkritischem Historiendrama, dennoch teilen sich beide Arbeiten, neben der miesen US-Presse, den hohen Kosten und den viel publizierten Produktionsrückschlägen, dass sie nicht in eines der konventionellen Westernschemata passen, die auf dem amerikanischen Markt bevorzugt werden.

«Heaven's Gate» ist nur das auffälligste Beispiel für einen prunkvollen, revisionistischen Western, der erst über die Jahre auch ein US-Publikum fand. Die Filmgeschichte ist voll von weiteren kritischen oder unkonventionellen Genrevertretern, die erst mit der Zeit auch im Land der endlosen Möglichkeiten gewürdigt wurden: «Tag der Gesetzlosen» von 1959, der 1966 veröffentlichte «Das Schießen», «Abgerechnet wird zum Schluss» aus dem Jahr 1970 oder auch das 1985 veröffentlichte, spaßige Westernabenteuer «Silverado». Und selbst Mel Brooks' Publikumsliebling «Blazing Saddles» scheiterte 1974 noch an den US-Kritikern. Atypische Western, die auf Anhieb Publikum und Kritiker eroberten, sind zwar aufzufinden (man denke nur an das «True Grit»-Original, «Der schwarze Falke» oder «Erbarmungslos»), aber fast durchgehend von Namen getragen, die sich zuvor schon mit (eher) regelgetreuer Ware einen Stern am Westernfirmament verdienten.

Der Spaghettiwestern wiederum spielt sich, abseits von Subgenremeister Sergio Leone, auf der anderen Seite des großen Teichs fast ausschließlich in begeisterten Filmfankreisen ab. Die melancholische Welt eines Karl May oder die ulkige Filmographie von Bud Spencer & Terence Hill schlussendlich munden nahezu allein dem westeuropäischen Publikum. Es wäre also fatal, einen Western allein nach den ersten US-Reaktionen zu Grabe zu tragen. Und in diesem Fall wäre es zudem äußerst bedauerlich, denn die «Fluch der Karibik»-Autoren Ted Elliott & Terry Rossio, «Zeiten des Aufruhrs»-Schreiber Justin Haythe und Regisseur Gore Verbinski vermengten über einhundert Jahre Genregeschichte zu einer tollkühnen Fahrt durch einen Westen, der nicht nur wild, sondern auch herrlich grotesk und stürmisch ist. Gewiss, zuweilen verläuft die Reise durch dieses Zerrbild Texas' etwas holprig, dennoch gelang den Verantwortlichen mit «Lone Ranger» ein ambitioniertes Großprojekt, wie man es zwischen den modernen, von Hollywoodstudios durchgeplanten Effektgewittern immer seltener zu Gesicht bekommt.

Der Wille, in einem hochbudgetierten Sommerfilm querköpfige Wege zu betreten, ist Oscar-Preisträger Verbinski (Foto) bereits in der Rahmenhandlung anzumerken. Diese nimmt zwar ausgedehnten Raum ein und bremst daher das eigentliche Geschehen zuweilen aus, hat jedoch dezent-absurdes Charisma und verleiht der Kernhandlung zugleich eine melancholische Zwischennote: Auf einem Jahrmarkt im Jahr 1933 begegnet ein kleiner Junge in einer nahezu leergefegten Wild-West-Ausstellung dem greisen Tonto (Johnny Depp), der ihm anbietet, die wahre Geschichte über den zur Radiosensation aufgestiegenen Lone Ranger zu erzählen. Der seiner Vergangenheit nachtrauernde, in seinen wirren Gedanken versinkende Komantsche etabliert gleich zu Beginn des Films Gore Verbinskis verspielten, gelegentlich in absurde Regionen driftenden Humor. Gleichwohl verdeutlicht er aber, dass die von ihm dargebotene Erzählung bloß ein letztes Aufleben der ikonischen Pionierzeit zusammenfasst. Diese ist, wie Tonto klar macht, nicht nur unwiderruflich vergangen, sondern forderte auch viele Opfer, die idealisierte Westernlegenden gern bei Seite schieben.

All zu viel Nachdenklichkeit oder Kritik an der Aufarbeitung des Wilden Westens wird Tonto wohlgemerkt nicht gestattet. Denn kaum möchte er dem Lone Ranger, einem strahlenden Helden, eine Schattenseite andichten, wird er von seinem neuen Bekannten jäh unterbrochen. Und so setzt Tonto neu an, um eine bombastische, jahrmarkttaugliche Geschichte von sich zu geben, in welcher der idealistische, gutherzige Lone Ranger gegen Korruption und blutrünstige Schurken in die Schlacht reitet. Es ist ein fescher Genrekommentar und eine selbstironische Einordnung des folgenden Spektakels, das postwendend mit einem aufsehenerregenden Zugunglück beginnt. Durch dieses entkommt der diabolische Ganove Butch Cavendish (William Fichtner) dem unfähigen Griff der Gerechtigkeit, weshalb sich nun Texas Ranger Dan Reid (James Badge Dale) aufmacht, ihn und seine schreckliche Bande dingfest zu machen. Der kernige Texas Ranger rekrutiert seinen herzensguten und kreuzbraven Bruder John (Armie Hammer) und reitet mit sechs weiteren Gesetzeshütern in die Wildnis, wo sie in einen Hinterhalt geraten. Nach dieser fatalen Attacke wird John Reid von Tonto und dem stolzen Ross Silver aufgelesen, woraufhin sich herausstellt, dass John Reid ein „Seelenwanderer“ ist, der in der Schlacht nicht sterben kann. Das zumindest glaubt Tonto, der wiederum behauptet, dieses Wissen von Silver zu haben. Zwar hält es John gemeinsam mit Tonto, mit dem er bereits kurz zuvor aneinandergeriet, und seinem sonderbaren Pferd kaum aus, jedoch muss er erkennen, dass er derzeit sonst niemandem trauen kann. Also nimmt er die Identität des „Lone Ranger“ an, um unerkannt die Spur des grausigen Cavendish zu verfolgen …

Der beschwerliche Weg, den Tonto und John gehen, bis sie sich zusammenraufen und unterstützen, statt sich einander zu behindern, ist einer der problematischeren Aspekte von «Lone Ranger». Dass sich die zentralen Figuren lange bekriegen mag plausibel sein, trotzdem ist es dramaturgisch suboptimal, dass die Kernhandlung durch die Kabbeleien der beiden Helden dermaßen lang hinausgezögert wird. Dessen ungeachtet sind die steten Zwistigkeiten des ungleichen Duos, die selbst dann nicht enden, sobald sich Tonto und John anfreunden, überaus vergnüglich, was der großartigen Chemie zwischen Depp und Hammer zu verdanken ist. Die Konkurrenz zwischen Tonto und John ist zudem nicht allein für spritzige Wortgefechte gut, sondern dient auch als kleiner Meta-Genrekommentar: Der Lone Ranger symbolisiert den idealistischen, romantischen Western, in dem konservative Werte vermittelt werden und die Zeiten noch simpler waren, während Tonto aus einem theatralischen Western ausgebrochen ist und für das Gesetz der begründeten Blutrache einsteht. Doch beide Seiten können in dieser Geschichte nicht alleine zu ihrem Ziel gelangen, denn Verbinski zeichnet die texanische Wüste als einen durch und durch amoralichen und absurden Ort. Die grotesken und mitunter cartoonigen Stationen auf der Odyssee der beiden Helden bleiben allerdings größtenteils kleine Randbemerkungen, wodurch das mehrmals angesprochene und reizvolle Thema der aus ihrem Gleichgewicht geratenen (Genre-)Natur trotz seiner wohligen Skurrilität pointenlos bleibt.

Mit dem von William Fichtner einschüchternd verkörperten Butch Cavendish hält zudem ein großer Spaghettiwesterneinfluss in «Lone Ranger» Einzug. Der entstellte, ruchlose Schurke könnte problemlos aus einem Western von Sergio Leone oder Sam Peckinpah entflohen sein und provoziert einige garstige Sequenzen, in denen Verbinski die Grenzen Disneys und der amerikanischen PG-13-Jugendfreigabe genüsslich auslotet. Neben Fichtners nur sporadisch genutzter Rolle verfügt «Lone Ranger» mit dem Eisenbahnmagnaten Latham Cole über einen weiteren Antagonisten, wobei der Oscar-nominierte Tom Wilkinson dieser klischeehaft umrissenen Figur nur wenig Leben einzuhauchen vermag. Auch Ruth Wilson kann trotz rauer Ausstrahlung dem Stereotypen der zu rettenden, toughen Städterin nur wenig Neues abgewinnen.

Wesentlich vitaler fällt die Filmmusik aus, die das Geschehen effektvoll begleitet und die gelegentlich aufkommenden, direkten Referenzen auf Genre-Meilensteine nachhaltig unterstreicht. Mehr noch als die düster trabenden Melodien von Hans Zimmer und eine quirlige, die obligatorische Saloon-Szene untermalende Einlage aus der Feder von Jack White bleibt aber die Musik zum energiegeladenen Finale im Ohr. Als Tribut an frühere Inkarnationen der von Verbinski neu interpretierten Ranger-Figur dröhnt während des überdrehten Actionfinales eine neu arrangierte Version der Guillaume-Tell-Overture daher und unterstreicht perfekt abgestimmt das irrsinnige Leinwandgeschehen. Diese Sequenz ist voller waghalsiger Stunts, schreitet mit zügigem Tempo voran und ist wild durchchoreographiert – nur wer Buster Keaton, Bud Spencer & Terrence Hill und die flottesten «Pirates of the Caribbean»-Actionmomente in einen Mixer steckt, würde zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen.

Dieses Finale ist ungleich allem, was «Lone Ranger» vorher bietet, und diese gewaltigen Stimmungswechsel zwischen dem glorreichen Ritt des Titelhelden, verrückten Zwischenstopps bei durchgeknallten Randfiguren wie Helena Bonham Carters Puffmutter oder den finsteren Taten der Filmschurken sind ein wichtiger Teil der Intention hinter Verbinskis Genretribut. Lässt man sich auf sie ein, machen sie auch einen weiten Teil der Faszination dieser aufwändig umgesetzten Großproduktion aus, selbst wenn nicht jeder Tonwechsel mit perfektem Timing vonstattengeht.

Da dieser Clash der Westernfilmkulturen vor prächtigen Setbauten und malerischen Landschaften stattfindet, die «Ring»-Kameramann Bojan Bazelli in verwitterten, stylischen Bildern einfängt, lädt «Lone Ranger» aber auch dann zum Staunen ein, wenn sich Verbinski mit seinen Ambitionen selbst ein Beinchen stellt. Depp sorgt als teils aufgedrehte, teils kritische Karikatur überholter Indianerdarstellungen für schrillen Abenteuerspaß, Armie Hammer läuft als komödiantisch unterfütterter Saubermann zu Hochform auf und die Action ist bei allem Prunk erfrischend altmodisch. So sehr sich die gedrängte Dramaturgie und vereinzelte, dröge Nebenfiguren als Stolpersteine erweisen mögen: Seinen desaströsen Ruf hat sich «Lone Ranger» bei all seinen sonstigen Qualitäten wahrlich nicht verdient und es bleibt zu hoffen, dass auch dieser Westernflop nach und nach neu betrachtet wird.

«Lone Ranger» ist ab dem 8. August in den meisten deutschen Kinos zu sehen.
07.08.2013 11:00 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/65373